Der Stuttgarter Hochseilakt

Dieter Spöri, einst SPD-Vormann einer großen Koalition mit Erwin Teufel, glaubt, dass der Stuttgarter Regierungswechsel die Republik verändern kann. Aber nur, wenn Kretschmann und Schmid „höchste Koalitionsdisziplin“ wahren. Seine Partei warnt er davor, die CDU als Joker im Ärmel zu halten. Das wäre das „finale Harakiri“ als Volkspartei im Südwesten

Alte Zeiten: Dieter Spöri (rechts) im Gespräch mit seinem damaligen Koalitionspartner Erwin Teufel, als in Stuttgart schwarz-rot regiert wurde. Spöri war stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in der großen Koalition (1992 bis 1996). Er gehörte zehn Jahre lang dem SPD-Bundesvorstand an, ist heute Präsident der Europäischen Bewegung Deutschland und feiert Mitte Mai seinen 68. Geburtstag Foto: Martin Storz

von Dieter Spöri

Mit Winfried Kretschmann beginnt ein neues landespolitisches Kapitel in Stuttgart – wenn er Ministerpräsident wird. Natürlich geht es zunächst darum, ob die neue Landesregierung die Erfolgsgeschichte des wirtschaftlich stärksten Flächenlands mit einem behutsamen Modernisierungskurs fortschreiben kann. Ein Erfolg der neuen Koalitionäre ist aber nur denkbar, wenn sie auch viele Anhänger von CDU und FDP für ihre Projekte gewinnen und wenn sie in diesem konservativ dominierten Land ihre politische Meinungsführerschaft stabilisieren können. Durch einen überzeugenden Stilwechsel.

Deshalb ist es von zentraler Bedeutung und nicht etwa schmückende Lyrik, wenn der künftige Regierungschef von einer „Politik des Gehörtwerdens“ spricht und dem Versprechen einer „Bürgerregierung“ die höchste Priorität gibt. Grün-Rot hätte mit einem Polarisierungskurs in Baden-Württemberg keine Chance, was man aus dem Scheitern von Stefan Mappus lernen kann. Insofern kann die besonnene Persönlichkeit Winfried Kretschmanns für die Glaubwürdigkeit eines Stilwechsels hin zu einer dialogorientierten Politik, die den Bürger mitnimmt, zu einem Glücksfall werden.

Dieser spannende landespolitische Zeitenwechsel hat jedoch auch eine große bundespolitische Bedeutung. Start und Performance werden die bundespolitische Farbenlehre dramatisch verändern und sogar über die Option für einen Politikwechsel in Berlin nach der Bundestagswahl 2013 entscheiden. Die ganze Republik schaut daher jetzt auf Baden-Württemberg. Niemals hatte eine neue Landesregierung bundesweit einen solchen Aufmerksamkeitsgrad: Erfolg oder Flop im Südwesten entscheiden über den weiteren Sturmlauf der Grünen zur Volkspartei, aber auch über das Comeback der SPD als Gegenpol der Union in der deutschen Politik. Es geht bei der Stuttgarter Expedition gleichzeitig um die künftige Statik des deutschen Parteiensystems.

Die grüne Volkspartei könnte zu einer Option werden

Nach dem publizistischen Anfangsbonus für alles Neue wartet daher auf die neue Koalition eine einmalig schwierige Herausforderung – der Hochseilakt von Stuttgart. Schon das ehrgeizige Regierungsprogramm weckt hohe Erwartungen, die in der oft grauen Praxis aufgrund der überall lauernden Ziel- und Interessenkonflikte schneller enttäuscht werden können, als es ein schwungvoll geschriebenes Regierungsprogramm vermuten lässt. Weit schwieriger werden die Großbaustellen Stuttgart 21, LBBW und EnBW, wo konzeptionelle und finanzielle Gefahren lauern. Einen solch anspruchsvollen Koalitionsparcours kann man nur mit höchster Koalitionsdisziplin durchstehen, wenn nicht die grün-roten Frühlingsgefühle in ein politisches Fiasko münden sollen.

Kein Zweifel: wenn Winfried Kretschmann als erster grüner Ministerpräsident mit der grün-roten Landesregierung erfolgreich startet, wird das auch die Hoffnung der Grünen auf eine führende Rolle im deutschen Parteiensystem mächtig beflügeln. Mit der Zwischenetappe eines möglichen ersten Platzes der Grünen mit Renate Künast bei der Berliner Wahl im Herbst dieses Jahres könnte dann auch bei der Bundestagswahl 2013 die noch etwas kühne Vision von der grünen Volkspartei zu einer handfesten Option werden.

Für die angestammte Volkspartei SPD dagegen ist ein erfolgreicher Start geradezu existenziell wichtig. Die baden-württembergische SPD kann seit der Landtagswahl nur noch auf diese Karte setzen. Es gibt in keiner Phase der neuen Legislaturperiode ein denkbares Szenario, in dem ein koalitionspolitisches Wechselspiel eines Partners hin zur CDU ohne vernichtenden Einbruch der Glaubwürdigkeit möglich wäre. Eine solche Volte wäre insbesondere für die SPD das finale Harakiri als Volkspartei im Südwesten. Das Wissen darum, dass es keinen wirklichen schwarz-roten oder schwarz-grünen Koalitionsjoker mehr im Ärmel gibt, kann die Stabilität von Grün-Rot auf der Wegstrecke ungemein fördern. Alles andere sind Hirngespinste strategischer Pygmäen.

Natürlich ist es jetzt für die SPD psychologisch ungemein schwierig, mit der Rolle als Juniorpartner der Grünen umzugehen. Der beachtliche Verhandlungserfolg bei den Ministerien lindert diesen Schmerz nur begrenzt. Wenn der ständig betonte Anspruch einer Partnerschaft „auf Augenhöhe“ Wirklichkeit werden soll, sind aber ganz andere Dinge entscheidend. Die SPD muss mit ihrem genauso jungen wie kompetenten Spitzenmann Nils Schmid als Garant für wirtschaftliche und finanzielle Berechenbarkeit in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit wahrgenommen werden.

Die Chancen für eine hier erfolgreiche Profilierung als „Juniorpartner auf gleicher Augenhöhe“ sind keinesfalls schlecht. Die aktuelle Debatte über die ökologischen Perspektiven der Automobilindustrie im Lande verdeutlicht die Möglichkeiten, die sich für einen sozialdemokratischen Doppelminister für Wirtschaft und Finanzen bieten. Im Übrigen könnte ja vielleicht das bei den Grünen jahrzehntelang verinnerlichte Modell von Doppelspitzen die Praktizierung der „gleichen Augenhöhe“ erleichtern, im speziellen Stuttgarter Fall natürlich in einer innovativen Mann-Mann-Version.

Die Gefahr der meisten Koalitionen liegt in der oft krassen Unterschätzung der Sprengsätze, die nach der Präsentation des Regierungsprogramms hinter manchem Formelkompromiss versteckt sind. Glaube ja keiner, das Beziehungsmanagement sei wegen größerer Schnittmengen zwischen Grün-Rot in Stuttgart leicht. Das genaue Gegenteil wird der Fall sein. Der Kampf um die künftige Rolle als Volkspartei macht die Konkurrenzbeziehung zwischen Grün und Rot schwieriger als zwischen anderen Parteien. Deshalb wird Grün-Rot in Stuttgart nur mit höchster Koalitionsdisziplin erfolgreich starten und die volle Legislaturperiode durchhalten.

Das beliebte Brauchtum koalitionspolitischer Intrigenspiele könnte schon bei Stuttgart 21 zum Koalitionscrash führen. Hier werden Fragen wie Stresstest oder Kostenschätzungen zur frühen Überlebensfrage der neuen Regierung. Im demokratischen Wechselspiel zwischen Regierung, Parlament, Medien und Bürgerbewegung müsste eine verdeckt gegeneinander intrigierende Koalition schon auf ihrer ersten Großbaustelle ein Waterloo erleben.

Auf diesem verminten Gelände entscheidet sich nicht nur für die Grünen, ob sie der Schwung einer neuen Bürgerbewegung, die weit über den Bahnhof hinausreicht, weiter trägt. Vor allem für die SPD wäre ein Koalitionscrash in dieser Frage desaströs: S 21 ist für sie ein gefährliches Spalterthema. Schon die Wanderung der Wähler hat gezeigt, dass die Sozialdemokratie in Richtung Grüne offen ist wie ein Scheunentor. Dazu kommt der heftige Widerstand der SPD-Basis gegen S 21. Wenn sich die Basis von ihrer Führung nicht ernstgenommen fühlt, könnte das zur weiteren Massenabwanderung zu den Grünen führen.

Entscheidend wird jedoch ein absolutes persönliches Vertrauensverhältnis der Koalitionsspitzen sein. Kretschmann und Schmid müssen im eigenen Lager konsequent durchsetzen, dass Grün und Rot nur mit eigenen Ressortleistungen positiv glänzen und sich nicht mit „spin doctors“ wechselseitig das Ansehen abgraben. Insbesondere die Koalitionsfraktionen müssen bei einem derartigen Konfliktpotential von Großprojekten durch „Anti-Zampanos“ geführt werden, die mit Autorität ohne Imponiergehabe überzeugen. Sollte sich diese unabdingbare Koalitionskultur loyaler Konkurrenz nicht einspielen, würde in Stuttgart nicht nur eine Landesregierung schnell scheitern. Auch die Option auf einen Politikwechsel 2013 im Bund würde leichtfertig vergeigt.

Verspielt wäre aber noch viel mehr: Die großen Hoffnungen und Erwartungen, die ein herzerfrischend politisierter Wahlkampf bei den Menschen geweckt hat. Es war eine Widerlegung aller politischen Zyniker, wie in Baden-Württemberg eine Bürgerbewegung zu Stuttgart 21 mit Kreativität, Kompetenz und einem ungeheuer seriösen Engagement von Citoyens im besten Sinne die entscheidenden Prozente für den Regierungswechsel mobilisierte. Alle Theorien kluger Analysten über den angeblichen Trend der geradezu naturgesetzlich fallenden Wahlbeteiligung wurden dadurch vom Tisch gefegt.

Ganz Deutschland schaut auf den Südwesten

Und nur mit diesem Schwung einer Bürgerbewegung als Avantgarde partizipativer Demokratie war der Sturz der „gefühlten“ Staatspartei CDU möglich, der längst überfällig war, wenn man nur einmal die Qualitätsunterschiede zwischen Späth und Mappus betrachtet. Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, die sich hier neu für Politik engagierten, haben in Baden-Württemberg das eigentliche Wesen der Demokratie durchgesetzt, nämlich den Wechsel.

Ganz Deutschland schaut auf diesen Wechsel im Südwesten. Wer jetzt enttäuscht, wird es lange büßen.