„Strafen nutzen sich ab“

Brauchen Schulkinder tatsächlich mehr Zucht und Ordnung, wie es Bernhard Bueb in seinem Bestseller „Lob der Disziplin“ schreibt? Nein – Disziplin ist nur ein Nebenprodukt guter Pädagogik, sagt der Psychiater Joachim Bauer. Morgen erscheint sein Buch „Lob der Schule“

Dr. Joachim Bauer, Jahrgang 1951, arbeitet als Internist, Psychiater und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin an der Uniklinik Freiburg. Er ist Professor für Psychoneuroimmunologie. Sein Buch „Warum ich fühle, was du fühlst“ über das Geheimnis der Spiegelneuronen stand auf den Bestsellerlisten. Dieser Tage erscheint bei Hoffmann und Campe ein neues Buch von Bauer, „Lob der Schule“, eine Antwort auf den umstrittenen Text des ehemaligen Leiters des Internats Salem, Bernhard Bueb, „Lob der Disziplin“.   FOTO:    HOFFMANN UND CAMPE

INTERVIEW MONIKA GOETSCH

taz: Herr Bauer, vor kurzem hat Bernhard Bueb sein umstrittenes Buch „Lob der Disziplin“ publiziert. Jetzt halten Sie ein „Lob der Schule“ dagegen. Was hat Sie an Buebs Buch provoziert?

Joachim Bauer: Disziplin ist kein Selbstzweck! Disziplinlosigkeit und Aggressivität sind Symptome, es sind Zeichen. Doktor Bueb kuriert an den Symptomen. Man kann eine Lungenentzündung aber nicht dadurch heilen, dass man dem Kranken das Husten verbietet.

Aber Disziplin ist doch wichtig!

Schon, aber die Frage ist doch: Wichtig wozu? Man muss Kinder und Jugendliche nicht in Watte packen oder ihnen alle Wünsche erfüllen, im Gegenteil. Aber das, was wir mit ihnen veranstalten und was wir ihnen abfordern, muss sie am Ende auch überzeugen. Wir sollten die Heranwachsenden menschlich erreichen, und das tun wir im Moment zu wenig.

Woran krankt denn aus Ihrer Sicht das Schulsystem?

Es krankt nicht nur an Umständen, die in der Schule selbst zu suchen ist, sondern mindestens im gleichen Umfang auch an Faktoren, die außerhalb der Schule liegen. Was die Schulen selbst betrifft, so gibt es eine zu starke Kopflastigkeit der Lerninhalte und viel zu viel Zeitdruck. Die Liebe zu einem Fach und die Vertiefung in einen Gegenstand kann nur gelingen, wenn kein Zeitdruck herrscht. Wir brauchen außerdem einen Ausbau der kreativen Fächer, also Musik, Theater, Tanz und Bewegung. Hier liegen die Chancen der Ganztagsschule.

Eine Erziehung, die auf Autorität beruht, ist keine Lösung?

Autorität ist ein Nebenprodukt guter Pädagogik, aber nicht ihr primäres Ziel. Kinder und Jugendliche haben ein Grundbedürfnis nach Beziehung. Warum? Sie wollen sich in uns, ihren erwachsenen Bezugspersonen, spiegeln. Der unbewusst an uns gerichtete Auftrag des Kindes lautet: Lass mich spüren, dass ich da bin! Zeige mir, wer ich bin, das heißt wo meine Stärken und Schwächen liegen! Und: Zeige mir, wer ich werden kann, wo meine Entwicklungspotenziale sind! Um das zu erfahren, brauchen Kinder Beziehungen, sowohl mit Eltern als auch mit Lehrerinnen und Lehrern. Wenn sie diese nicht bekommen, ernten wir Disziplinlosigkeit und Aggression. Das ist die derzeitige Lage.

Wie kann sich dann ein Lehrer Respekt und dieses „Nebenprodukt“ Autorität verschaffen?

Indem er mit den Kindern Beziehung gestaltet. Er sollte authentisch und spontan, als „Mensch mit Eigenschaften“ auftreten. Gute Lehrkräfte beachten eine Balance zwischen verstehender Zuwendung und notwendiger Führung. Zuwendung heißt: Schülerinnen und Schüler als Personen wahrnehmen, sie verstehen, sich für ihre Interessen interessieren und Humor haben. Führung heißt: Ausstrahlung zeigen, sich für Dinge begeistern können und nicht zuletzt für Werte und Leistungsziele eintreten.

Sind überhaupt keine Strafen erlaubt?

Wichtiger ist, dass Lehrkräfte für das, was sie einfordern, klar eintreten, also dem einzelnen Kind oder Jugendlichen – nicht nur mit Blick auf sein Verhalten, sondern auch auf seine Leistungen – klar sagen, was gut und was nicht gut war. Das ist für ein Kind bereits ein starkes Signal. Strafen können als Zeichen, dass Regeln eingehalten werden müssen, nötig sein, nutzen sich aber rasch ab. Das Wichtigste ist, dass Kinder durch die Rückmeldungen von Lehrern nicht gedemütigt, nicht bloßgestellt und nicht beschämt werden.

Und die Neurobiologie stützt ihre Thesen?

Stärkster Stimulus für die biologischen Motivationssysteme des Gehirns ist die Zuwendung und das Interesse anderer Menschen. Soziale Ausgrenzung oder Demütigung bewertet das Gehirn fast gleichwertig wie absichtsvoll zugefügten körperlichen Schmerz. Die Reaktion auf Demütigung oder Ausgrenzung – das hat also auch neurobiologische Gründe! – ist Motivationsverlust und Aggression.

Bestätigt die Neurobiologie nicht nur, was viele Psychologen und Pädagogen ohnehin längst wissen?

Mein Eindruck ist, dass Pädagogen von dem, was die moderne Neurobiologie zur überragenden Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehung sagen kann, eine Menge lernen können. Sonst hätte ich mein Buch nicht geschrieben. Ich werde von Lehrkräften sehr oft eingeladen und habe extrem gute Rückmeldungen.

Und was können Eltern dafür tun, dass ihre Kinder gerne und erfolgreich zur Schule gehen?

Bildung beginnt mit dem ersten Lebenstag, aber nicht so, dass wir dem Kind alles Mögliche aufdrücken, sondern dadurch, dass wir uns dem Kind zuwenden, uns einfühlen, mit ihm liebevoll interagiere und sein natürliches Interesse an der Außenwelt fördern, und das ohne Leistungsdruck! Das wichtigste Bildungsinstrument für Kinder unter fünf Jahren sind nicht irgendwelche Unterrichtsinhalte, sondern das Spiel! Kinder, die viel spielen, werden später die Cleversten sein.

Haben die Väter dabei eine besondere Aufgabe?

Ja, absolut. Bei der Diskussion um die Versorgung der Kinder dreht sich immer alles um die Mütter. Das zeigt, dass wir die Väter viel zu wenig im Auge haben. Wir Väter haben unsere Bedeutung für Kinder und Jugendliche noch nicht ausreichend erkannt. Kinder, vor allem die Jungs, haben ein eklatantes Vaterdefizit.

Die ideale Lehrerausbildung: Was würde die enthalten?

Lehrer sind in den Fächern, die sie unterrichten, meistens gut ausgebildet. Was ihnen fehlt, ist die Kunst, in der Manege des Klassenzimmers zu bestehen. Worauf es hier ankommt, ist die Kunst der Beziehungsgestaltung. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, was eine Lehrkraft sagt, sondern wie sie es sagt, wie sie auftritt, wie sie zum Beispiel ihre Körpersprache einsetzt oder mit ihrer Stimme umgeht. Mein Buch geht darauf besonders ein. In der Ausbildung fehlen diese Aspekte.

Wie sähe denn eine Schule aus, die Ihr Lob verdient?

Es müsste eine Ganztagsschule sein, in der Schüler und Lehrkräfte ganztags präsent sind, in der Klassen nicht größer als 25 Schüler sein dürfen. Vor allem aber müsste es eine Schule sein, in der Theater, Kunst, Musik, Rap, Formationstanz, Sport und soziale Projekte einen zentralen Stellenwert haben.

Sehen Sie irgendeine Chance, dass solche Schulen einmal Wirklichkeit werden?

Ich hoffe es. Die Frauen, die uns jetzt politisch führen, werden sich daran messen lassen müssen, ob sie hier das Ruder herumwerfen können. Meine Unterstützung werden sie haben, egal ob es gegen männliche Retrolook-Politiker in dieser oder jener Partei geht.

In mindestens einem Punkt treffen Sie sich ja mit Bueb. Auch er lobt eines dieser „Treibhäuser der Zukunft“ aus dem gleichnamigen Film, die Bodenseeschule. Hat Sie das überrascht?

Umso besser. Ich glaube, Dr. Bernhard Bueb war im Schulalltag kein schlechter Pädagoge, jedenfalls war er sicher weit besser als sein Buch!