Im Schleierkrautmeer

MAGAZIN Dem „Paradies“ gilt das jüngste Heft des „Magazins über Orte“: Mit leiser Poesie setzt es Bilder und Texte in einen Fluss, an dessen Ufern man zur Ruhe kommt. Eine Herzensangelegenheit von Fotografen und Grafikern

In manchmal nächtelangen Diskussionen kreisen die drei Herausgeber, die gleichzeitig auch für die Gestaltung verantwortlich zeichnen, ihr Thema ein

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Was sich sofort einstellt, wenn man das Heft aufschlägt: Ruhe. Jedes Foto, jedes Gemälde, jede Zeichnung hat mindestens eine Seite für sich und viel Weißraum um sich herum, zwischen den Bildstrecken steht der eine oder andere schön gesetzte Text, mal ein Gedicht in einer Ecke, mal ein kleines Aperçu vertikal auf der Seite, mal auch eine mehrseitige Kurzgeschichte. Nichts ist laut hier, nichts schreit einen an, es gibt keine fetten Überschriften und keine Werbung, kein Beitrag plustert sich effektheischend auf. Schlicht fließen Bilder und Buchstaben im Wechsel über die Seiten aus feinem Ökopapier, das den eleganten Namen „Revive Pure Natural“ trägt.

Die gerade erschienene 8. Ausgabe des „Magazins über Orte“ hat das Thema „Paradies“. Gärtnernde Männeroberkörper bewegen sich in einer Fotostrecke durch Rittersporn- und Schleierkrautmeere, in der nächsten sind unter dem Titel „Promised Land“ menschenleere, ab und an vom Zaun durchschnittene Landschaftsbilder von Palästina zu sehen. Es folgen das Gedicht „Ein Skinhead im Himmel“, Jeff Walls mit Seesternen und Meerwasser gefülltes offenes Grab, Luc Tuymans Bilder von leeren Diaprojektionen an grauen Wänden, eine Erzählung von Miranda July und die kitschig-betörenden Fotos, die Ryan McGinley in Tropfsteinhöhlen von nackten jungen Menschen gemacht hat.

Bloß keine Palmen

Mitherausgeberin Birgit Vogel sagt über die Konzeption des Heftes, man habe keine klischeehaften Paradiesvorstellungen abbilden wollen, keine irdischen Paradiese, keine Palmen am Strand – man habe nach Surrealem gesucht, nach Sinnlichem, nach allem, „was das Paradies als utopischen Ort auszeichnet und dem Heft einen gewissen Klang gibt“.

Seit 2007 bringen die Fotografin Julia Marquardt (33), die Grafikerin Vogel (30) und der Fotograf Elmar Bambach (34) im Halbjahresrhythmus ihr Magazin heraus. Alle drei haben an der Fotoakademie in München studiert und in Berlin anschließend an Kunsthochschulen bzw. der Ostkreuzschule weitergemacht. Die Idee zu dem Heft hatten sie, als ihnen vor fünf Jahren keine Zeitschrift einfiel, in der sie ihre Arbeiten gedruckt sehen wollten – mittlerweile, so erzählt Birgit Vogel, „ist die Qualität unseres Heftes derart gestiegen, dass wir mit unseren eigenen Sachen kaum noch mithalten können; wir sind da sehr kritisch!“

Die ersten Ausgaben beschäftigten sich mit Orten wie Küche, Schreibtisch, Tatort, Zuhause und Meer. Konnte man bislang das Geld für den Druck von 1.500 Stück zusammenkratzen, hat das „Paradies“ jetzt eine Auflage von 4.000 Stück. Erstens, weil man den Freundeskreis von C/O Berlin als Druckkosten-Förderer gewonnen hat. Und zweitens, weil das kleine, unabhängige „Magazin für Orte“ völlig überraschend im letzten Herbst den meist eher inzestuös unter den großen Verlagshäusern herumgereichten Medienpreis „LeadAward“ in der Kategorie „Newcomer“ gewonnen hat. Die letzte Ausgabe musste man schon nachdrucken. Aber Birgit Vogel bleibt realistisch: „Natürlich werden wir die Auflage nicht beliebig steigern oder irgendwann davon leben können. Wir sind ein Nischenprodukt, und mehr als vielleicht mal 500 Euro Urlaubszuschuss sind nicht zu erwarten.“

Dieses Magazin ist eine von vielen anderen Jobs finanzierte Herzensangelegenheit. In manchmal nächtelangen Diskussionen kreisen die drei Herausgeber, die gleichzeitig auch für die Gestaltung verantwortlich zeichnen, ihr Thema ein, wobei sie „eher kuratorisch“ vorgehen: Es soll eine Einheit entstehen, ein Fluss zwischen den Arbeiten, „die Bezüge müssen für uns intuitiv funktionieren“. Man kann jedes Heft als ein Zwischenergebnis einer eigentlich unabschließbaren Recherche begreifen, während der drei Menschen Bekanntes sammeln, Unbekanntes entdecken, sich affizieren lassen, googeln, in der Stadt unterwegs sind, ihren Fokus ein halbes Jahr auf ein bestimmtes Thema richten, Dinge zugetragen und unverlangt eingesandt bekommen. Das Heft ist dabei Plattform für Studenten, Autodidakten und Großkünstler gleichermaßen.

Geschätztes Ambiente

Da es außer für den Druck keinerlei Budget gibt, erstaunt es die MacherInnen immer wieder, wie einfach sie das Okay für den kostenlosen Abdruck auch großer Namen bekommen – mit ein bisschen Hartnäckigkeit gegenüber Agenten, Verlagen und Galerien „merken die irgendwann, dass wir es ernst meinen und dass ihre Arbeiten in ein schönes Umfeld kommen“.

Wenn man fragt, was für eine Idee von Magazin hinter alldem steht, wählt Birgit Vogel erstaunliche Begriffe: Bereichert- und Berührt-werden-Wollen, leise Poesie, untergründige Zeitlosigkeit, kein Wegwerfprodukt, sondern bewahrenswertes Sammelobjekt. Denkt nach: „Ich glaube, das ist eine Gegentendenz zur Flüchtigkeit im Netz.“ Denkt noch mal nach und ergänzt: „Aber es ist immer noch ein Magazin, es gibt auch die spielerische Seite.“ Auf jeden Fall erzählt dieses Magazin von etwas, das mit neubürgerlich oder neokonservativ falsch beschrieben wäre: von der Sehnsucht nach einem weiten Blick, nach Signifikanz und dauerhafter Anfassbarkeit. Und nimmt man sich über das Coffeetable-Blättern hinaus Zeit mit diesem Heft, stellt sich neben der Ruhe noch etwas ein: so etwas wie ohrensesselige Freude.

■ In Berlin bekommt man „Ein Magazin über Orte“ für 12 Euro u. a. bei Walther König, b_books, proqm, Kisch & Co.;

www.orte-magazin.de