ZWEI MILLIONEN BÄUME „INTEGRALISIERT“
: Die Totgesparten

REINER WANDLER aus Madrid

Die Madrilenen fürchten nur eines – dass ihnen ein Baum auf den Kopf fällt. In den letzten Monaten häufen sich die tragische Unfällen in Parks und Alleen. Im Juni erschlug ein 400 Kilogramm schwerer Ast den 38-jährigen Carlos Álvarez, während er mit seinen beiden Kindern im bekanntesten Park der Hauptstadt, dem Retiro, spielte. Und vor wenigen Tagen traf es in einem Vorort einen 72-jährigen Rentner. Insgesamt 15 Fälle herabfallender Äste und umstürzender Bäume zählt die Opposition seit Frühjahr. Ein Kind wurde schwer verletzt, sechs Personen, die unweit der zentralen Puerta del Sol ein Bier auf einer Terrasse genossen, leicht. Mehrere Pkw wurden beschädigt, ein Linienbus getroffen. Madrid diskutiert: Spielt die Natur verrückt? Ja, meint die Stadtverwaltung. Nein, sagen Opposition und Gewerkschaften. Sie suchen die Verantwortung bei der Politik.

Madrid hat zwei Millionen Bäume und ist damit eine der grünsten Städte Europas. „Es sind schon immer Äste heruntergefallen“, erklärt die Bürgermeisterin und Ehefrau des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar, Ana Botella. Das dies derzeit für Schlagzeilen sorge, sei den beiden unglücklichen Todesfällen geschuldet. Ein Oppositionspolitiker hält dagegen: „Alles Schlechte passiert ausgerechnet dieses Jahr?“ Er sieht die Ursache in der Sparpolitik der mit sechs Milliarden Euro hochverschuldeten Stadt.

Vor einem Jahr wurde das Unternehmen, das ausschließlich für die Pflege der Bäume zuständig war, geschlossen. Die weitgehend privatisierte Stadtreinigung und die Parkpflege wurden zusammengelegt und in mehreren „integralen Verträgen“ ausgeschrieben. Von der Straßenreinigung über Reparatur am urbanen Mobiliar bis hin zur Pflege von Parks und Grünanlagen.

Den Zuschlag erhielten letztendlich vier Tochterunternehmen großer spanischer Baukonsortien, die sich in der Immobilienkrise nach neuen Betätigungsfeldern umsahen und diese in den privatisierten öffentlichen Diensten fanden. Insgesamt kosten die vier Verträge die Stadtverwaltung 1,9 Milliarden Euro für die kommenden acht Jahre. Madrid sparte gegenüber den bis dahin gültigen Verträgen 629 Millionen Euro ein.

Die Ausschreibungsgewinner geben den Druck nach unten weiter. Zuerst sollten Straßenkehrer entlassen werden. Ein Streik konnte dies verhindern. Stattdessen wurde die Arbeitszeit zusammengestrichen. Jeder Arbeiter verliert 45 Tage im Jahr. Die Gewerkschaften rechnen vor, dass dadurch Tag für Tag 228 Arbeiter weniger in Straßen und Parks unterwegs sind als vor den Kürzungen. Um dies zu unterstreichen machten Gewerkschaften und Opposition die Statistik der gefällten, kranken Bäume öffentlich. Waren es 2011 noch 4.585 Exemplare, fielen im Vorjahr nur noch 2.843.

Außerdem wurden die Bäume in den letzten Jahren gezielt so beschnitten, dass ihnen weniger Blätter wachsen und sie damit weniger Arbeit für die verbleibenden Straßenkehrer im Herbst verursachen.

„Carlos ist Opfer der Sparpolitik“, erklärt die Schwester des Mannes, der im Juni erschlagen wurde. Die Familie hat Strafanzeige gegen die Stadtverwaltung gestellt. Bürgermeisterin Botella wird den Prozess nicht mehr im Amt erleben. Sie kündigte nur einen Tag nach dem zweiten Todesfall an, bei den Wahlen im kommenden Mai nicht kandidieren zu wollen.