Moskauer Studenten proben den Aufstand

Künftige Soziologen streiken für bessere Professoren sowie eine Lehre ohne rassistische und nationalistische Ideologie

MOSKAU taz ■ Äußerlich ist dem Gebäude der Soziologischen Fakultät an Moskaus staatlicher Universität (MGU) nichts anzusehen. Die Fassade des neoklassizistischen Stalinbaus strahlt in makellosem Ocker. Weder Transparente noch Graffiti lassen ahnen, dass die Sozfak seit einem Monat bestreikt wird und Ort einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Studenten und Fakultätsleitung ist. Vom Äußeren könnte das Gebäude auch Russlands Generalstab sein. Im Innern sei dies nicht viel anders, meint Oleg, der seit vier Jahren Soziologie studiert. Drehkreuze, elektronische Ausweise, Detektoren, grobe Sicherheitsbeamte und Überwachungskameras vermittelten das Gefühl, „als gehöre dein Körper nicht mehr dir“, beschreibt Oleg die Lage im Institut.

Der Streit entzündete sich jedoch nicht an den hochsicherheitstraktähnlichen Auflagen. Zunächst ging es um die Cafeteria, die Preise wie in teuren Restaurants verlangte. Als Proteste nichts nützten, machte die studentische Initiativgruppe OD (Historischer Tag) publik, dass ein Verwandter der Institutsleitung Mitinhaber sei. Der MGU-Rektor kündigte den Vertrag. Für die Studenten war dies der Startschuss für weitere Klagen. 200 Studenten solidarisierten sich mit den 20 OD-Aktivisten, auch Dozenten stießen dazu.

Seither richtet sich der Protest gegen das niedrige Ausbildungsniveau. Mehr als zehn bekannte Professoren, die den Mund aufmachten, mussten im letzten Jahr die Sozfak verlassen. Namhafte ausländische Soziologen, klagt die OD, werden nicht mehr eingeladen. Originaltexte und Forschungen aus dem Westen stehen weder zur Verfügung noch seien sie Teil der Lehre.

„Studenten können den Mangel durch Autodidaktik nicht mehr auffangen“, sagt Alexander Bikbow, der als Dozent an eine andere Hochschule wechselte. Die Fakultätsleitung versucht, die angehenden Soziologen von Auslandsaufenthalten und Praktika abzuhalten. Informationen über Austauschprogramme sind nicht frei zugänglich. Als Studenten auf dem Unigelände Flugblätter verteilen wollten, verständigte das Dekanat die Polizei und ließ sie festnehmen.

Die Stellen der rausgeekelten Professoren hätten Leute besetzt, die weder Wissen noch Erfahrung mitbrächten, klagen die Studenten. Viele Lehrkräfte stammten aus dem Umfeld der russisch-orthodoxen Kirche. Renommierte Experten wie Bourdieu seien ihnen kein Begriff. „Die Fakultät ist zu einer Brutstätte nationalistischer und pseudoreligiöser Propaganda geworden“, meint Bikbow. Eine vom Dekanat verbreitete Broschüre zitiert zustimmend die antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ und weist Freimaurern die Schuld an den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu.

Dekan Wladimir Dobrenkow bat den Institutsrat um Unterstützung. „Wir haben Hinweise, dass hinter dem Aufruhr westorientierte Kräfte stehen, die die Technologie der orangefarbenen Revolution zur Machtergreifung nutzen wollen.“ Die künftigen Soziologen denken noch gar nicht an die Macht. Zwei Anliegen haben sie: echte Selbstverwaltung und „endlich lernen“.

KLAUS-HELGE DONATH