Ach, ich bürgerliches Schwein

Die Zelebration eines Stiellöffel-Desserts und der letzte Besuch im Gourmetzirkus

Rinderarsch in Rotwein. Das ist ja eine schöne Schweinerei!

Das bürgerliche Schwein hält was auf sich, trägt Frack und Monokel und hängt als Ölbild an der Wand des Gourmetrestaurants „Le cochon bourgeois“. Ich dagegen sitze brav auf einem Stuhl und bin gewillt, für Speis und Trank so viel Geld auszugeben wie sonst bloß bei Ausrichtung eines drei Wochen währenden Banketts für 20 Personen.

Draußen vor den Scheiben whoppern proletarische Schweine im gelb-rosa und grün-lila Trainingsdress vorbei. Nun ja, der Dress allein tut es nicht … und das nötige Training käme Jahrzehnte zu spät. Die Hunde an den Leinen sind genau so fett wie die Frauchen und Herrchen. Der gleiche Dosenschweinefraß treibt die niederen Organismen in die Breite. Nicht so mich, den spindeldürren bürgerlichen Schweinegourmet. Ich habe meine Ernährung schon lange umgestellt. Boudin noir. Rache ist Blutwurst! Wir bürgerlichen Schweine haben es nicht nötig, viel zu essen, unsere Verachtung gilt den Vielfraßen … Nur beim teuren Getränk machen wir eine quantitative Ausnahme. Rotwein nach dem Cremant? O ja, bitte! Wie der Herr wünschen, kommt sofort!

Am Nachbartisch sitzen auch bürgerliche Schweine, von gleicher Art, aber unterschiedlichen Geschlechts. Gottfried Benn hat einmal die treffliche Gleichung aufgestellt: Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch! Er hätte seine helle Freude an den Nachbars-Exemplaren gehabt. Der Herr ist Onkologe. Nein, nicht Vertreter bei Onko, sondern Krebsspezialist. Leider kann er nicht an sich halten und erzählt von dieser blutig-geschwürigen Profession auch beim Essen. Sein uringelber Anzug und das Weichspülerblau des Hemds kontrastieren hübsch zum Schweinchenrosa der Haut. Sein Ehegespons, eine verdörrte Faltenorgie in einer kopfgroßen Seidenblume, scheint selig entschlafen. Daher flugs den Blick auf den nächsten Gang gerichtet: Boeuf Bourguignon – Rinderarsch in Rotwein. Das ist ja eine schöne Schweinerei! Dazu selbstredend Burgunder. Und genüsslich mit der eigenen Schweinebacke auf der Polsterseide hin- und hergerutscht.

Livepiano hat eingesetzt, muss aber bald kapitulieren vor dem Lärmpegel, den die inzwischen vollzählig eingetroffene bürgerliche Schweinebande hochhält. Man suhlt sich frohgemut im Unrat der eigenen Verlautbarungen: „Wir gehen jetzt vor Gericht! Die können uns mal kreuzweise! Ja, scheiß der Hund drauf!“ Der proletarische, möchte ich dezidiert hinzufügen. Sprachlich ist bei den bürgerlichen Schweinen ein Verfall der Manieren zu bemerken. Aber auch sonst: Zeigt da nicht einer mit der Gabel auf den anderen? Schmatzt da nicht eine? Weiß da einer nicht, was der Unterschied zwischen Cremant und Champagner ist? Fiel da nicht eben einem das Monokel in die Hummersuppe?

Verdammt, es juckt mich, das Kaninchen mit Kartoffelplätzchen und Pilzragout auch noch zu kosten. Und den lauwarm marinierten Kalbskopf in Trüffelvinaigrette. Man sagt hier ja auf Gutbürgerlich „kosten“ und nicht probieren – wohl weil es sehr viel kostet. Ich koste und bin mit meiner bürgerlichen Schweineexistenz vollkommen im Einklang. Noch etwas Burgunder? Ja, bitte! Gleich ein Fläschchen noch her. Gluckgluckgluck, da isses weg.

Die Stunde rückt vor, und auch der pochierte Kapaun in der Holundersauce ist Geschichte. Irgendwie stiehlt sich Großmutter in meine Erinnerungswelt: „Denk an die armen Kinder in Indien.“ Das war stets ihr Hinweis darauf, dass ich aufessen sollte. Hier im schweinischen Gourmetrestaurant fällt mir das nicht schwer. Ich habe noch immer einen bombastischen Hunger. Mit einem Mal ergreift mich eine höllische Panik: Bin ich am Ende doch ein Prolet? Komm ich noch anständig bis zum Dessert? Oder gucken die anderen schon?

Karamellisierte Apfeltarte – die muss es sein. Vorher, nur um auf den Geschmack zu kommen, etwas Himbeersorbet und, ja, die Crème brûlée. Dazu bitte Süßwein. Tolles Gesöff. Gerne mehr. Nicht doch noch eine Portion von diesem Apfeltort? Oder Tart, ist doch egal, wie das Zeug heißt! Plötzlich ein finaler Moment der Nüchternheit: Die anderen bürgerlichen Schweine starren erstarrt auf mich, der ich über den Boden krieche und den Pianospieler an den Schwalbenschwänzen ziehe. Eine Saalrunde! Kein Gedanke mehr an den schnöden Mammon! Jetzt wird Rabatz gemacht!

Nun ja, das sind so Franz-Biberkopf-Fantasien, die einen bei der öffentlichen Zelebration des Stiellöffel-Desserts im „Bürgerlichen Schwein“ überfallen. Irgendwie hat sich das alles überlebt. Ich denke, dieser ganze Gourmetzirkus wird wohl sehr überschätzt. Mit Blick auf die Rechnung und die grassierende bürgerliche Schweineideologie in diesem Etablissement komme ich zur festen Überzeugung, dass ich zum letzten Mal im Gourmetrestaurant gewesen bin.

Das befrackte Schwein grinst mich dreist an, von der Wand, in Öl und mit Monokel. Mich Gourmetjunkie. Bis zum nächsten Mal. TOM WOLF