Hochbegabung ist Luxus

BILDUNGSSYSTEM Kinder mit überdurchschnittlicher Intelligenz brauchen oft Förderung – doch die kann teuer werden. Für Kinder aus ärmeren Familien ist das ein Problem

Paul sei ständig unzufrieden mit sich gewesen und habe eine von ihm benannte „schwarze Phase“ gehabt, sagt seine Mutter

VON LEA ZIEROTT

Schon mit neun Monaten wusste Paul* genau was er wollte, und sein Lieblingswort hieß: warum? Dass er hochbegabt ist, merkten seine Eltern erst, als er in der Schule Schwierigkeiten bekam. Seitdem versuchen die Müllers* alles, um ihren beiden hochbegabten Kindern ein normales Leben zu ermöglichen – was nicht einfach ist, wenn die notwendige Förderung viel Geld kostet und von staatlicher Seite nur wenig passiert.

„Paul war in einem Montessori-Kindergarten und für uns ganz normal. Auch die Kindergärtnerinnen schienen nichts Besonderes daran zu finden, dass er auf dem Rechenbrett schon im 10.000er Bereich rechnete“, sagt Kerstin Müller*, Pauls Mutter. Als er jedoch auf eine normale Grundschule kam, seien die Lehrer plötzlich der Meinung gewesen, dass er Aufmerksamkeitsstörungen habe. Die Familie habe immer dagegen gehalten und ihn schließlich testen lassen – das Ergebnis betrug 145, ein IQ-Wert, den zwei Prozent der Bevölkerung erreichen.

Bei den meisten Kindern macht sich die Hochbegabung erst in der Grundschule bemerkbar. Bei Jungen geschieht dies offensichtlicher als bei Mädchen, da sie oft extrovertierter sind. Bei hochbegabten Kindern wird zwischen Hoch- und Minderleistenden unterschieden. Paul gehört zu letzteren, was bedeutet, dass er nur gute Leistungen erbringen kann, wenn das Lernumfeld stimmt. Fehlt die Motivation, bleiben viele dieser „Underachievers“ mit ihren Noten im mittleren Bereich oder sind gar nicht mehr beschulbar.

Wie viele Kinder mit einer Hochbegabung dieser Art sei Paul ständig unzufrieden mit sich gewesen und habe eine von ihm benannte „schwarze Phase“ gehabt, die sich unter anderem in körperlichen Symptomen bemerkbar machte, sagt seine Mutter. Nachdem er die Schule gewechselt und die 3. und 4. Klasse in einem Jahr gemacht hatte, entschied Paul mit acht Jahren, dass er auf eine Schule gehen wollte, an der er den ganzen Tag lernen konnte.

„Wir haben damals das fliegende Klassenzimmer gelesen und danach wollte er auf ein Internat“, sagt Kerstin Müller. Schließlich fanden sie eines, das zwar Pauls Anforderungen entsprach, für eine durchschnittlich verdienende Familie wie die Müllers aber zu teuer war.

Pauls Glück war es, dass er wegen seiner psychischen Probleme unter den Paragraphen 35 a des Jugendhilfegesetzes fiel. Danach haben Kinder und Jugendliche, deren „seelische Gesundheit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht“, Anspruch auf sogenannte „Eingliederungshilfe“. Wenn bei Hochbegabten festgestellt wird, dass das öffentliche Schulsystem für sie nicht adäquat ist, kann das Jugendamt einen Teil der Schulkosten übernehmen.

Dank dieser Finanzierung hat Paul seinen Platz im Internat bekommen – ein Modell, von dem Karsten Otto, Vorstand des bundesweit tätigen Vereins Hochbegabtenförderung e.V., eher abraten würde: „Wir warnen davor, Kinder zu früh aus dem öffentlichen System zu nehmen, da es danach oft noch schwerer ist, zurückzukommen und Privatschulen auch nicht unbedingt geeignet sind“, sagt er.

Otto sieht das Problem im Bildungsförderalismus. Das Schulsystem in den Bundesländern werde ständig geändert, eine einheitliche Hochbegabtenförderung könne so nicht zustande kommen.

Derzeit gibt es für Kinder mit einem überdurchschnittlich hohen IQ an staatlichen Schulen zwei Wege: Entweder sie werden extra gefördert und vertiefen den Stoff, den ihre Klassenkameraden durchnehmen, oder sie überspringen mehrere Klassen – was den Nachteil hat, dass sie aus ihrem sozialen Umfeld gerissen werden und emotional nicht hinterherkommen.

Bislang gibt es in Hamburg Förderprojekte nur an bestimmten Schulen. „Hochbegabtenförderung ist Aufgabe der Schulen, wie sie konkret umgesetzt wird entscheidet jede Schule selber“, sagt Jan Kwietniewski von der Beratungsstelle besondere Begabung (BbB) in Hamburg.

Falls nicht gerade eine Schule in der Nähe ist, die Hochbegabtenförderung betreibt, kann es für die Kinder schwierig werden. „In Hamburg kostet alles Geld“, sagt Kerstin Müller, die Kontakt zu vielen Eltern hochbegabter Kinder hat. Gerade Einwandererkinder hätten oft keine Chance, sagt Müller.

Von der Begabtenberatungsstelle der Stadt Hamburg gibt es zwar außerschulische Projekte, jedoch mit einem Eigenanteil, den die Familien zahlen müssen. Bei den kostenlosen sogenannten „Enrichment Projekten“ ist es wiederum Aufgabe der Schulen, ihre Schüler anzumelden. Alles weitere ist Sache der Eltern.

Derzeit richtet Hamburg allerdings an verschiedenen Schulen Projekte wie das neue „Modellprojekt Schmetterlinge“ ein: Bis Sommer 2012 werden 17 Grundschulen dabei unterstützt, Modelle zur Begabtenförderung zu entwickeln. „Wir legen großen Wert auf integrative Förderung, es sollen nicht nur die hochbegabten – sondern auch die partiell begabten Kinder gefördert werden“, sagt Kwietniewski von der Begabten-Beratungsstelle.

In Bremen gibt es seit März ein ähnliches Modell. An zwei Schulen soll dort nach dem Motto „Hochbegabung inklusiv“ die optimale Förderung aller Kinder erreicht werden. Beide Projekte sind jedoch zeitlich begrenzt.

* Namen geändert