Balten und Polen fordern klares Signal

OSTEUROPA Trotz Obamas Estland-Besuch: In den baltischen Staaten und in Polen wachsen die Zweifel, ob die Nato ihre östlichen Mitglieder verteidigen kann

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Seit Monaten schon fordert Estland eine ständige Militärpräsenz der Nato in den baltischen Staaten. Keines der drei Nato-Mitglieder in Nordosteuropa – neben Estland sind das Lettland und Litauen – wäre in der Lage, sich gegen einen Angriff Russlands zu verteidigen. US-Präsident Barack Obama flog denn auch ganz bewusst vor dem Nato-Gipfel im britischen Wales in die estnische Hauptstadt Tallinn und sicherte dem kleinsten baltischen Staat zu: „Estland wird niemals allein dastehen.“

Präsident Toomas Hendrik Ilves forderte dazu auf, die Nato-Russland-Gründungsakte von 1997, an die etliche westliche Staaten trotz der Militärinterventionen Russlands in der Ukraine festhalten wollten, auf den Prüfstand zu stellen: „Wenn eine Vereinbarung in bestimmten Teilen nicht mehr gilt, ist es an der Zeit, etwas zu ändern“, so Ilves am Mittwoch nach seinem Treffen mit Obama. Russland habe die Bestimmungen der Vereinbarung verletzt und eine „unvorhersehbare und neue Sicherheitsumgebung“ geschaffen. Die Gründungsakte beschränkt dauerhafte Stationierungen von Nato-Truppen in Osteuropa.

Obama räumte ein, dass sich die Umstände „klar verändert“ hätten und die Frage folglich auf dem Nato-Gipfel diskutiert werden müsse. An der Bündnistreue der Mitgliedsstaaten dürften keinerlei Zweifel aufkommen. Die USA und Estland seien zwei von vier Nato-Staaten, die ihre Zusagen einhielten und jährlich 2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgäben. Nicht nur Estland und Lettland haben große Angst davor, dass Moskau die starken russischen Minderheiten in ihren Ländern für einen Konflikt instrumentalisieren könnte, ohne dass der Westen ihnen zu Hilfe käme. Auch in Litauen und Polen wachsen die Zweifel am Willen der Nato, ihre östlichen Mitglieder zu verteidigen.

Vor 25 Jahren war Polen das erste Land des Ostblocks, das sich die Demokratie erkämpfte. Erst einige Jahre später gelang es Präsident Lech Walesa, auch die letzten russischen Besatzungssoldaten nach Moskau zurückzuschicken. Ähnlich verlief der Prozess in den baltischen Republiken. Jetzt sehen sich diese Länder erneut als Frontstaaten. Von ihren westlichen Nato-Verbündeten erwarten sie, dass diese endlich handeln.

Gerade in Polen wird der Ton in der öffentlichen Debatte immer schärfer. Kaum ein Pole versteht, warum die Kurden im Kampf gegen die ISIS-Terroristen Waffenhilfe aus Deutschland erhalten, die um ihre Freiheit kämpfenden Ukrainer aber nicht. Stattdessen telefoniere Kanzlerin Angela Merkel ununterbrochen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin – und verkünde dann öffentlich, wie sehr sie über die „Krise“ in der Ukraine „beunruhigt“ sei.

Etliche polnische Publizisten werfen den Deutschen vor, sie seien aufgrund ihrer belasteten Geschichte – Hitler-Stalin-Pakt und gemeinsamer Überfall auf Polen 1939, Massenmorde in Russland, Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad und Teilung Deutschlands mit sowjetisch besetzter Ostzone – gar nicht in der Lage, mit den Russen auf Augenhöhe zu verhandeln.

Außenminister Radoslaw Sikorski lobt zwar in der linksliberalen Gazeta Wyborcza, dass die Deutschen auf diplomatischem Wege eine Lösung für den russisch-ukrainischen Konflikt suchten und Verantwortung für die Region übernehmen wollten. Angesichts des bisherigen Versagens der deutschen Diplomatie sei es jedoch besser, wenn Angela Merkel das Verhandlungsmandat niederlege und es der EU und der Nato überlasse, die Gespräche mit den Präsidenten Petro Poroschenko und Wladimir Putin zu führen.

Polens Regierung fordert, dass der Nato-Gipfel ein ganz klares Signal an Putin sendet. Außer der schnellen Eingreiftruppe und den fünf neuen Logistikbasen in den östlichen Nato-Mitgliedsstaaten soll auch die Ukraine Militärhilfe erhalten. Präsident Bronislaw Komorowski warnte bereits am Wochenende angesichts der russischen Invasion in der Ukraine vor einer Wiederholung der Appeasementpolitik von 1938, die Hitler den Weg geebnet habe und jetzt Putin geradezu ermuntere, seine bisherige Politik fortzusetzen.

Zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs am 1. September druckte die Gazeta Wyborcza eine missmutig dreinblickende Kanzlerin Merkel als Titelbild. Darunter die Schlagzeile: „Die Deutschen werden uns nicht verteidigen.“

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