Unsichtbare Gäste

Weltweit feiern Juden mit dem Pessach-Ritual den Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft. Das Fest ist vor allem durch strenge Speisevorschriften geprägt: Gesäuertes Brot ist tabu und man isst symbolischen Mörtel

Dem Mythos nach zogen die Hebräer aus Ägypten aus, um der Knechtschaft zu entrinnen – „am 15. Nissan des Jahres 2448 nach Erschaffung der Welt“, wie in jüdischen Publikationen zu lesen ist. Seit vielen Jahrtausenden feiern die Jüdinnen und Juden der Welt die Befreiung von der Sklaverei mit dem Pessachfest. Das gehört zu den höchsten Feiertagen des Judentums und unterliegt strengen, komplizierten Regeln, weshalb es gleichermaßen geliebt und gefürchtet ist. Auf dem festlich geschmückten Tisch für den Sederabend, der die achttägigen Pessach-Feierlichkeiten einleitet, ist ein extra Platz dem Propheten Elias reserviert, der den Exodus angeführt haben soll. Das Oberhaupt der Familie öffnet ihm die Tür und begrüßt ihn mit einem Gebet „Inzwischen sind unsere Nachbarn es gewohnt, dass ich ab und an unsichtbare Gäste anbete“, spöttelt Haw, Leiter des jüdischen Theaters Schachar in Hamburg. „Am Anfang haben sie schon manchmal komisch geguckt.“

Die Teller werden gefüllt mit besonderen Speisen wie Charoset, einer Mischung aus Äpfeln, Walnüssen, Honig, Zimt und etwas Rotwein. „Das sieht etwas rotbraun aus und soll den Mörtel symbolisieren, mit denen die Juden nach dem Auszug aus Ägypten ihre Häuser gebaut haben“, sagt Haw. Mindestens vier Becher Wein müssen getrunken werden, um einen Zustand der Glückseligkeit zu erreichen. Nachdem der zweite Becher gefüllt ist, fragt das jüngste Kind: „Wodurch unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?“ Diese Frage läutet die jüdische Nacht der Nächte ein, denn nun beginnt die Hagadah, die Liturgie vom Auszug aus Ägypten. 70 sollen sie gewesen sein, als die Hebräer sich vor Jahrtausenden in Ägypten niederließen. Dort ging es ihnen zunächst so gut, dass sie sich vermehrten und in Wohlstand lebten – bis ein Pharao sie versklavte. Alle Bitten, sie ziehen zu lassen, ließen den Pharao unbeeindruckt. Der Überlieferung nach kamen deshalb die zehn Plagen über das Land: Fischesterben im Nil, erst die Frosch-, dann die Ungezieferplage, wilde Tiere, Viehsterben, Furunkel für alle Ägypter und ihr Vieh, Hagelsturm, Heuschreckenschwärme, Finsternis, Tod aller erstgeborenen Kinder und Tiere. Nur das Gebiet, in dem die Hebräer lebten, wurde jeweils verschont. Deshalb versprach der Pharao während jeder Heimsuchung, sie gehen zu lassen. Dieses Versprechen brach er indes immer wieder – bis die ägyptischen Kinder wegstarben.

Die Hebräer brachen in aller Hast auf, sie waren so in Eile, dass sie den vorbereiteten Teig noch ungesäuert in Tücher schlugen und Brote davon buken. Deshalb wird Pessach auch als das Mazzot-Fest, das Fest der ungesäuerten Brote, bezeichnet. Bei der traditionellen koscheren Zubereitung darf die gesamte Produktionszeit 18 Minuten nicht überschreiten. „Ein Rabbi steht mit der Stoppuhr daneben und überwacht das strengstens“, sagt Haw. Am Vorabend vor dem Auszug aus Ägypten soll der Sederabend zum ersten Mal begangen worden sein, das „Pessach des Herrn“. Seither begehen Jüdinnen und Juden in aller Welt jedes Jahr diese Feierlichkeit. Der biblischen Geschichte zufolge soll Jesus von Nazareth wegen des Pessachfestes nach Jerusalem gegangen sein, wo er dann gekreuzigt wurde. So entstand sehr viel später das Osterfest als Erinnerung an die Kreuzigung Jesu, ein ebenfalls hoher Feiertag im Christentum.

Das Pessachfest ist streng reglementiert: Der Erstgeborene muss acht Tage fasten, alle dürfen während dieser Zeit kein gesäuertes Brot essen, nicht einmal im Hause haben, ebenso keine Nudeln. Die Reste der Sederspeisen dürfen nicht aufbewahrt werden, alles muss weggegeben oder weggeworfen werden. „Für mich ist Pessach das schönste und wichtigste unserer Feste“, sagt Haw. „Jedes Mal bin ich froh, wenn ich die strenge Seder bewältigt habe. Obwohl ich jedes Jahr erneut Lampenfieber habe, freue ich mich schrecklich drauf.“ Birgit Gärtner