Der Lady Gaga ihre Oma

Lady Gaga ist mit „Born This Way“ nicht mehr ganz an der Spitze der Charts, Bruno Mars hat sie mit „Grenade“ verdrängt. Ein winzige Delle in der Erfolgskurve der Single der Popprinzessin, wo „Born This Way“ doch bei seiner Veröffentlichung im Februar eingeschlagen war wie (Achtung, Wortwitz:) eine Granate – eine Hommage an Madonnas „Express Yourself“, es reproduziert dessen gefällige E-Dur-D-Dur-A-Dur-Popmusik und hat sogar noch die gleiche lebensbejahende Aussage.

Doch in dem Song verbirgt sich auch ein Novum: Lady Gaga ist die erste Popsängerin, die in einem Songtext das Wort „Transgender“ verwendet: „No matter gay, straight or bi / Lesbian transgendered life / I’m on the right track, baby / I was born to survive“. Aufgefallen ist das nur der Queer/Trans-Community, die Freude war groß.

Lady Gaga mag Gender-Themen. Sie walzt in ihren Videos so schamlos alle Püppchenklischees aus, dass sogar feministische Popexegese das als Satire identifiziert, sie äußert sich immer wieder pro Homorechte und befeuerte eine Zeit lang sogar Gerüchte, sie selbst sei trans- oder intersexuell.

Ebenfalls ein Herz für solche Themen hatte vor rund 50 Jahren die Jazz- und Kabarettsängerin Ruth Wallis. Was Lady Gaga in „Bad Romance“ als „Disco Stick“ bezeichnete (und sich deswegen live im Fernsehen mit Madonna kabbelte), beschrieb die Gaga-Oma in Songs wie „Johnny has a Yo-Yo“ oder dem „Dinghy Song“. Das prüde Nachkriegsamerika reagierte auf diese schlüpfrigen Schamlosigkeiten so entsetzt, wie es sich Lady Gaga nur in ihren Träumen ausmalen kann.

Wie Lady Gaga „Alejandro“, so widmete auch Ruth Wallis einen Song ihren schwulen Freunden: Das grandiose „Queer Things Are Happening“, erschienen 1966 auf ihrer Platte „The Spice Is Right“ – ist ein lustiges Lied über eine gerade vermählte Frau, die es seltsam findet, dass ihr Mann sich so für Stiefmütterchen interessiert, rosa Hemden trägt und ihre Lockenwickler benutzt. – Klar, Old-School-Geschlechterrollen-Klischees, deren Ursache die Ehefrau dann ganz naiv auf die Spur kommt: „When I find lipstick on his tie / he says there’s no other woman / so it must be a guy“ – obszön! skandalös!, urteilten die Moralapostel der McCarthy-Zeit: Das Radio zensierte Ruth Wallis, Plattenfirmen ignorierten sie, und bei einer Australien-Tour konfiszierte der Zoll ihren gesamten Merchandise.

Heute wirken ihre Songs so charmant, dass niemand sie als schlüpfrig missverstehen würde. Auch der Titel ihrer „Greatest Hits“ (1998) und des Off-Broadway-Musicals über ihre Karriere (2003) ist so niedlich, dass er schon wieder was für Lady Gaga wäre: „Boobs“. MAG