Büchner unzensiert

Eine Kostprobe im kreativen Umgang mit dem Fragmentarischen: Das Freie Werkstatttheater Köln bringt in „Woyceck3“ alle drei Szenensammlungen der Tragödie Büchners ungekürzt auf die Bühne

VON HOLGER MÖHLMANN

Manchmal ist gerade das Unfertige besonders spannend. Denn es lässt Platz für die Phantasie. Die flüchtige Skizze, das Gesicht mit dem Schönheitsfehler, die Musik, die plötzlich abbricht – alles, was der Welt keine perfekte Fassade entgegensetzt, regt an, regt auf, irritiert oder inspiriert. Georg Büchners „Woyzeck“ ist so etwas Unfertiges: ein Fragment. Ein Drama ohne echten Anfang, dafür mit jeder Menge Text für den Mittelteil und verschiedene Schlussversionen. Spannender geht eigentlich kaum.

Dass viele Schüler den „Woyzeck“ trotzdem nur als angestaubte Deutschlektüre kennen lernen und viele Theatergänger in ihm nichts als die deprimierende Charakterstudie eines von Wahnvorstellungen heimgesuchten Frauenmörders sehen, beweist einmal mehr, dass es dem Unfertigen nicht gut tut, wenn man es abrundet, es künstlich vollenden will. Denn mit der Vollendung geht meist auch etwas verloren. Im Fall des „Woyzeck“ sogar der größere Teil.

Als der hessische Hitzkopf Büchner 1837 mit nur 23 Jahren stirbt, hinterlässt er drei Szenensammlungen, die das „Woyzeck“-Drama in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung wiedergeben. Eine Reihenfolge der Szenen gibt es nicht. Manche Episoden finden sich in allen drei Fassungen, andere nur in einer oder zweien. Auf deutschen Bühnen und in deutschen Büchern hat sich auf dieser Basis seit langem eine Einheitsversion des „Woyzeck“ herausgebildet, die viele Szenen weglässt und alle übrigen so logisch wie möglich aneinander reiht – mit mäßigem Erfolg.

Das Freie Werkstatt Theater in Köln macht es nun erstmals anders. „Woyzeck3“ heißt die neue Produktion des Hauses, die den Fragmentcharakter des Werkes ernst und Büchner beim Wort nimmt: Unter der Regie von Kay Link spielen fünf Schauspieler die drei ursprünglichen Fassungen des „Woyzeck“-Fragments an einem Abend. Dabei bleiben die Szenen der einzelnen Versionen in genau der Reihenfolge, in der sie der Bruder des Dichters nach dessen Tod aufgefunden hat. Die Ausgangslage ist immer die gleiche: Woyzeck, der arme Schlucker, muss sich als einfacher Soldat von seinem Hauptmann schikanieren lassen und lässt sich von einem zwielichtigen Arzt für groteske Experimente missbrauchen, um an etwas mehr Geld zu kommen. Außerdem leidet er unter den Stimmen, die er immer wieder hört. Mit der Hure Marie hat Woyzeck ein Kind, doch sie betrügt ihn mit einem Tambourmajor, woran er zerbricht.

Auf der Grundlage dieser Konstellation versteht sich „Woyzeck3“ als eine Folge von Angeboten: So wie Regisseur Link die drei Fragmentfassungen interpretiert, entscheidet der Zuschauer selbst, wie er Handlung und Hauptfigur sehen will. Wer ist der Soldat Woyzeck: ein gutmütiger Trottel, den die innere Unruhe wie ein Fieber überfällt und den die Eifersucht zur Verzweiflungstat treibt? Ein von Albträumen Gejagter, der wie unter Zwang die Geliebte ermordet und selbst nicht weiß wieso? Oder ein von Anfang an in seiner eigenen Welt lebender, misstrauischer Spinner, der überall Gespenster sieht? Und: Muss „Woyzeck“ immer eine Tragödie sein? Kay Links „Woyzeck3“ ist nicht nur intellektuell anregend. Er kommt feurig und spielfreudig daher, schrill und schnell, manchmal hitzig wie das Fieber, stellenweise lustig, immer hart am Grotesken, experimentell, bewusst unfertig und wie ein Mosaik aus widersprüchlichen Regungen und Empfindungen – so wie Woyzeck eben ist, so wie Menschen eben sind.

Schauspielerisch bewegt sich die Inszenierung auf hohem Niveau: Neben äußerst wandlungsfähigen Nebendarstellern brillieren vor allem Holger Stolz als Woyzeck mit tausend Facetten und Christina Vayhinger als mal sarkastisch-liederliche, mal tiefgründig-charakterstarke Marie. Überzeugend auch der intelligente Einsatz nur weniger Requisiten auf der fast leeren Bühne. Insgesamt ein Abend, der alles Andere als deprimierend und verstaubt ist, sondern aus dem kreativen Umgang mit dem Fragmentarischen ein hohes Maß an Vollendung erreicht.

Do, 08. März, 20:00 Uhr Infos: 0221-327817