Diskurspop für 64 Beine

Was passiert, wenn ein Indierocker in der Girlreihe landet? Geht es schief? Oder kann man dort Glamour abstauben? Peter Thiessen, Kopf der Band Kante, hat an der Musik für die neue Revue des Berliner Friedrichstadtpalasts mitgearbeitet. Ein Bericht aus dem ganz großen Edeltrash-Inferno

VON RENÉ HAMANN

Was ist eine Revue? Richtig: eine Schau. Eine schrullige, veraltete Kunstform, die Theater, Kabarett, Tanz, Artistik und Musical in sich vereint. Hauptcharakteristikum und unbestrittener Höhepunkt: die sogenannte Girlreihe, die seit fast hundert Jahren zum Beinewerfen da ist. Oder, wie es der Berliner Friedrichstadtpalast selbst sagt: 32 Girls, 64 Beine. Muss man gesehen haben.

Der Berliner Friedrichstadtpalast ist neben dem Pariser Moulin Rouge oder dem Lido so etwas wie die letzte Bastion dieser Kunstform. Das Besondere an diesem Touristen- und Seniorenmagnet: Der Friedrichstadtpalast bringt nur eigene Produktionen und selbstkreierte Werke auf die Bühne. Neben „Glanzlichter“ und der Kinderrevue „Der Zauberer von Camelot“ (fraglich, ob auch da Girls ihre Beine nach rechts und nach links schwenken) ist das in diesem Jahr die Revue „Rhythmus Berlin“: ein vage an die Glanzzeit Berlins und an den Ursprung dieser Kunstform erinnerndes Spektakel, das die Goldenen Zwanziger mit dem Heute zu verbinden sucht.

Regisseur und Autor Thomas Münstermann hat sich hierfür viele junge Leute herangeholt, so den Videokünstler Timo Schierhorn, der schon mit Tocotronic zusammengearbeitet hat, die jungen Autoren und Komponisten Jan Dvorak und Axel Goldbeck, und eben Peter Thiessen, seines Zeichens Sänger, Texter und musikalischer Kopf der Hamburger Diskurspopband Kante. Was mehrere Fragen aufwirft: Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit, und wie fruchtbar kann sie sein? Braucht es sich in subkulturellen Kontexten verdient gemacht habende Figuren, um eine trashige und scheintote Kunstform wie die Revue wiederzubeleben? Was interessiert beispielsweise Thiessen an diesem bislang völlig entfernten Paralleluniversum Friedrichstadtpalast, Touristenfalle und Relikt Ostberliner Versuche, so etwas wie Glam in die verstaubte DDR zu bringen? Noch dazu, wo Thiessen und Schierhorn aus Hamburg kommen? Und: Wie Boulevard kann man gehen? Kurzum: Was soll das alles?

Das Vorspiel

Das war eine seltsame Meldung: Bitte nach Schöneberg fahren, die Band Kante arbeitet an einer Revue mit und spielt ein paar Stücke daraus vor geladenen Gästen und Freunden. Das war Ende Januar. Der Zeitpunkt wurde mit 21 Uhr angegeben, Ort des Geschehens sollte die Wohnung des Regisseurs der Revue sein. Nollendorfstraße 17. Eine stille, schöne Straße in der Nähe des Nollendorfplatzes.

Nach einer halben Stunde traf der Gastgeber ein, die beiden späteren Hauptdarsteller der Show und ich warteten schon. Nach und nach tröpfelten weitere Gäste, irgendwann auch die Musiker in die herrschaftliche Wohnung des Boulevardregisseurs ein. Typische Kulturkarrieristenbleibe, wenn man so will: Schicke, weit- und vielräumige Altbauwohnung, bestimmt nicht preisgünstig, dafür betont spartanisch eingerichtet und in Weiß gehalten. Transparente Tische. Designerstühle. In der Küche standen Getränke bereit, im Salon Naschwerk. Einer der Räume stand mit Musikinstrumenten voll, nicht nur mit denen der Band. Der Raum nebenan beherbergte im Wesentlichen nur Bücher. Seine Besonderheit war ihm nicht unbedingt anzumerken. Es handelte sich tatsächlich um das Zimmer, in dem der englische Schriftsteller Christopher Isherwood zwischen 1930 und 1933 gelebt hat. Eine Tafel am Haus erinnert daran.

Christopher Isherwood, bekennender Schwuler und Mitarbeiter des Instituts für Sexualforschung unter Magnus Hirschfeld, schrieb hier Romane und Erzählungen, sein bekanntestes Werk heißt „Goodbye to Berlin“. Aus den Motiven seiner Bücher wurde später der Musical-Renner „Cabaret“ gestrickt. Der Musiktheatermacher wohnt also im Domizil eines Genre-Heroen, nur dass Münstermann eben die gesamte Wohnung sein Eigen nennt (natürlich wohnt er nicht alleine hier, sondern mit Frau und Kindern), während Isherwood sie sich mit vielen anderen, darunter auch einer damals sehr bekannten Prostituierten, teilen musste.

Zum Glück gab es auch Musik: Nach der Vorstellung seitens Münstermann und der Erklärung, wie diese Zusammenarbeit entstanden ist (Münstermann kannte Kante seit „Zweilicht“, der Kontakt kam über den Dramaturgen Jan Dvorak zustande, der für die letzte Kante-Platte die Streicher dirigiert hatte), spielten Kante ein tragendes, ruhiges Drei-Stücke-Set, das jegliches Unbehagen bald wegstellte. In den Texten fiel äußerst oft das Wort „Stadt“. Thiessen schien der richtige Mann für ein Revueprojekt zur Stadt Berlin zu sein. Die Anwesenden waren zufrieden.

Die Stadt Berlin

Auf der Platte selbst gibt es acht Stücke, die das große Thema Stadt umkreisen. Der Hauptunterschied zu den letzten beiden Platten liegt in der konkreten Benennung der Stadt. Stadt ist bei Texter Thiessen nicht mehr als abstrakte Idee, als Vorstellung von Welterklärung (ab heute lebt die Hälfte der Menschheit in Städten), sondern jetzt tatsächlich: diese Stadt hier. Berlin. Die Hauptstadt. „In seiner Trostlosigkeit, in seinen Prachtalleen / will ich mich verlieren / Berlin“ und „Wer hierher kommt, will vor die Tür“. Sie ist gut festgehalten, die Stadt Berlin, das kann man wirklich sagen. Stellt sich die Frage, wie die Freunde in Hamburg oder Köln das finden. Dort, wo man Zentralismus als Bedrohung empfindet.

Was weiter auffällt, ist die Fokussierung der Texte auf das Zwischenmenschliche und das fast komplette Fehlen von Politik. Daraus könnte man jetzt eine Theorie basteln, einen Hinweis auf Verkaufe oder Ranschmeiße an Hoch- oder Fremdkultur sehen. Muss man aber nicht. Peter Thiessen tangiert das auch nicht. Im Interview ist er ein freundlicher, aufmerksamer, redegewandter Mensch, der raucht. Die Haare hat er sich mittlerweile auf Jonathan-Meese-Länge wachsen lassen. „Es hat Auseinandersetzungen gegeben in der Band“, erzählt er zu der Idee, bei einer Revue mitzuarbeiten. „Das musste diskutiert werden, ob wir das machen.“ Dann erzählt er von Friedrich Holländer, von Hildegard Knef und Marlene Dietrich, deren Werke er sich zur Vorbereitung angehört hat, und von den Gesprächen mit den Bühnenarbeitern des Theaterhauses: „Die Belüftungsanlage haben noch die Russen eingebaut! Das ist die, die auch im Kreml ist!“

Dazu betont er das Soziale einer solchen Zusammenarbeit, auch in der Arbeit am Text, wo ein U-Laut etwa gegen einen positiveren, offensiveren A-Laut getauscht werden musste. „Ich war nie ein Anhänger des einsamen Künstlerdaseins“, sagt er. „Ich finde es auch extrem cool, so etwas zu machen. Weil es so weird ist. Und weil es Anklänge an die Sachen hat, die ich wirklich toll finde.“ Als Nächstes arbeiten Kante im Wiener Burgtheater zu einem Stück von Peter Handke.

Musikalisch ist „Kante Plays …“ so etwas wie die Element-of-Crime-Platte der Band. „An die haben wir auch gedacht“, gibt Thiessen zu, „aber ich kenne eigentlich keine Musik von denen.“ Es gibt zwei Uptempo-Nummern, ansonsten geht es melancholisch zu, mit einem leichten Brecht/Weill- und Chanson-Einschlag, einem Wissen um Traditionen jenseits von Experiment und Breitwandrock. Das ist natürlich nicht schlecht, das hat was, das können Kante.

Die Platte hat mit der Revue aber viel weniger zu tun, als man annehmen könnte. Die Texte in der Revue stammen alle von Thiessen, sind aber zu anderen Musiken geschrieben worden. Von der Musik der Band Kante hat es im Prinzip nur ein Stück in die Revue geschafft, das dort gänzlich anders wirkende „Du hältst das Fieber wach“. Und zwei weitere Stücke, die als Versatz hier und da auftauchen. In der Revue ist Thiessens Arbeit nur eine von vielen.

Die Premiere

Dann rückt der Termin der Revue immer näher. Am Tag der Premiere herrscht Angst. Angst vor Fehlern, Angst vor Förmlichkeit. „Abendgarderobe erwünscht“ steht auf den Karten. Über dem Foyer schwebt eine gewaltige Parfümwolkendecke, Scheinwerfer bestrahlen das Entrée, herausgeputzte Seniorenmeere und lokale Prominenz begehren Einlass. Die Platzanweiserin könnte auch eine Flugbegleiterin sein, jedenfalls wartet man eine Sekunde auf den Wunsch „Guten Flug“, der dann doch nicht kommt.

Es ist ein Paralleluniversum, in dem man sitzt. Und die letzten Reste antibürgerlicher Reflexe, die man so hat, finden das alles auch bedenklich und sorgen für Unbehagen. Dass sich im Dunkeln der Aufführung dann nach und nach auflöst. Man erkennt: Die Equilibristen können was, die Kostüme sind toll (Frauen tragen zu Kleidern zurechtgeschnittene Stadtpläne), die Bühnenbilder sind großartig, die Videoprojektionen nicht aufregend, aber gelungen. Irgendwie ist dieses Edeltrash-Style-Inferno tatsächlich ganz geil.

Die Kunstform Revue birgt einen gewaltigen Vorteil in sich: Um Handlung geht es nicht. Es ist ein Ablauf von hintereinandergebauten Szenen, wechselnde Schauplätze und Stimmungen und Subkünste eben. Sind die Tänzerinnen gelaufen, kommen die Turner. Nach den Turnern kommt wieder mehr Gesang. Und so weiter. Selbst Ironie und Schabernack ist dem Genre nicht fremd. Roter Faden: Autor Münstermann hat sich für eine Amour fou zwischen einem Fotografen und einer „Tagträumerin“ entschieden. Am Ende kriegen sie sich doch.

Die Stadt Berlin bildet allerdings nicht viel mehr als die große Kulisse des Ganzen. Auch wenn Thiessens Texte in den Ablauf prima eingepasst sind, Hintergrund und Geschehen miterklären können: So richtig kommt es nicht darauf an, was da gesungen wird. Überhaupt erfährt man nicht viel Neues über irgendetwas, das außerhalb des Friedrichstadtpalastes stattfindet. Über den Friedrichstadtpalast und sein Genre selbst erfährt man jedoch eine Menge. Und die Girlreihe zum Schluss, die sollte man gesehen haben.

„Rhythmus Berlin“ von Thomas Münstermann und Jan Dvorak. Texte: Peter Thiessen. Vorstellungen im Friedrichstadtpalast, Berlin, bis zum 14. Juli.„Kante Plays Rhythmus Berlin“ (Labels/EMI)