Verwirrung um Messwerte

FUKUSHIMA Die Arbeiten an Reaktor 2 mussten zeitweise wegen extrem hoher Verstrahlungsgefahr unterbrochen werden. Japanisches Industrieforum vermutet Schaden am Sicherheitsbehälter

VON RICHARD ROTHER

Die Verwirrung über die extremen Strahlenwerte am japanischen Katastrophen-Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, gut 220 Kilometer nordöstlich von Tokio gelegen, hat am Sonntag groteske Formen angenommen. Zunächst meldete die Betreiberfirma Tepco, in Wasser aus Reaktor 2 sei Radioaktivität gemessen worden, die 10 Millionen Mal so stark wie normal sei. Daraufhin verließen Arbeiter den Reaktor. Auch das flüchtige Isotop Jod-134 sei in hoher Konzentration festgestellt worden, hieß es. Ein paar Stunden ruderte die Firma zurück: Das Wasser im Reaktor 2 sei zwar radioaktiv verseucht, ein Wert 10 Millionen Mal so hoch wie normal jedoch falsch, sagte ein Firmensprecher. „Diese Zahl ist nicht glaubhaft.“ Auch seien womöglich andere radioaktive Substanzen als das bisher gemeldete Jod-134 im Wasser im Turbinenhaus enthalten.

Selbst für Experten von außen ist nicht durchschaubar, ob es sich tatsächlich um fehlerhafte Messungen handelt – oder ob Tepco beruhigen will. „Es ist schon seltsam, wenn Jod-134 festgestellt wurde“, sagte Greenpeace-Atomexperte Tobias Riedl der taz. „Das wäre ein herber Rückschlag.“

Reaktordruckbehälter eventuell beschädigt

Der Grund: Jod-134 hat nur eine kurze Halbwertzeit von einer knappen Stunde. Seit dem Unfall vor zwei Wochen hätte es sich längst abgebaut haben müssen. Wenn also nun erneut Jod-134 gemessen wurde, müsste eine neue nukleare Kettenreaktion in Gang gekommen sein. „Das würde die Gefahr, die vom Reaktor ausgeht, enorm erhöhen.“ Denn in diesem Fall entstünde eine enorme Hitze. Zudem würden erneut radioaktive Spaltprodukte, auch kurzlebige, entstehen. Und: „Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Reaktordruckbehälter beschädigt ist.“

Auch das japanische Atomindustrieforum vermutet bereits einen Schaden des Sicherheitsbehälters an Reaktor 2, während die Behälter in den anderen fünf Reaktoren des AKW als „unbeschädigt“ gelten.

Aus einem kaputten Behälter können enorme Mengen an Radioaktivität unkontrolliert – also nicht nur durch vorübergehendes Dampfablassen – in die Umgebung entweichen. Für die dortigen Arbeiter wäre das lebensgefährlich; entsprechend erschwert würden dadurch die Arbeiten am Atomkraftwerk. Das wiederum kann nicht sich selbst überlassen werden; in diesem Fall stiegen Gefahr und Strahlung, die vom AKW ausgehen, immer weiter.

Schon jetzt hat die Strahlung, die von Fukushima Daiichi ausgeht, teilweise die Dimension der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erreicht, wie die österreichische Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik am Wochende feststellte. Aufgrund von Messwerten in Japan, Kalifornien, Alaska und Russland war es den österreichischen Forschern möglich abzuschätzen, wie viel radioaktives Jod-131 und Cäsium-137 ausgetreten sein müssen, wenn gleichzeitig metereologische Bedinungen wie Windstärke und -richtung berücksichtigt wurden.

„Hochgerechnet auf die Dauer des Unfalls ergeben sich für diese flüchtigen Isotope Summen, die mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vergleichbar sind“, stellen die österreichischen Forscher fest. Allerdings machten die beiden Isotope nur einen kleinen Teil der effektiven Strahlendosis aus, so dass die effektive Strahlenbelastung rund um Fukushima Daiichi nicht mit der um Tschernobyl vergleichbar sei.

Durch die Küstenlage und die vorherrschenden Windrichtungen aus West sei die Situation für die japanischen Inseln günstiger. Allerdings dreht auch rund um Fukushima der Wind immer mal wieder, so dass auch der Großraum Tokio teilweise betroffen ist. Nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes dürfte dies am Dienstag, wenn auch in abgeschwächter Form, wieder der Fall sein. Dass Tokio schon erhebliche Strahlenbelastungen abkriegte, belegen Messwerte lokaler Behörden. Demnach wurde in Tokio am 22. März bei Jod-131 eine Tagesbelastung von 35.700 Becquerel pro Quadratmeter gemessen; bei Cäsium-137 waren es 335 Becquerel pro Quadratmeter. Am Tag zuvor waren es bei Jod 32.300 Becquerel pro Quadratmeter beziehungsweise 5.300 Becquerel pro Quadratmeter bei Jod. Beide Werte sanken in den Folgetagen wieder auf 217 Becquerel pro Quadratmeter für Jod-131 beziehungsweise 12,2 Bequerel pro Quadratmeter für Cäsium am vergangenen Freitag..