herr tietz macht einen weiten einwurf
: Ausscheid mit Pinkelpausenprotest

Herr Tietz lässt sich von der wartezimmerartigen Wettkampfatmosphäre des Spitzenschachs bezaubern

Es ist häufig vom Schach die Rede in letzter Zeit auf den Sportseiten. Auch heute wieder. In allen Zeitungen wird der Sieg des Schachcomputers Deep Fritz über den Schachchampion Kramnik vermeldet. Schon in den Tagen davor wurde ausführlich von dieser Begegnung zwischen Mensch und Maschine berichtet. Bereits im Oktober war es der Weltmeisterschaftskampf zwischen dem Russen Wladimir Kramnik und dem Bulgaren Weselin Topalow, der meine breitere Aufmerksamkeit erregte. Und das gar nicht nur wegen der pikanten Toilettenaffäre, die nämliche WM beherrschte, sondern auch wegen ihrem exotischen Austragungsort.

Eine Stadt namens Elista – von der ich, wie ich zugeben muss, vorher nie etwas gehört, geschweige denn gewusst hatte, dass es sich um die Hauptstadt Kalmückiens handelt. Ein Land wiederum, dessen Name mir zwar durchaus geläufig, von dem ich bis dahin aber auch zu wissen überzeugt war, dass es sich um ein Fantasiegefilde handelt. Vor die Wahl gestellt, ob es sich bei Kalmückien um a) eine autonome Republik der Russischen Förderation handelt oder um b) eines der fabulösen Länder, die Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer mit ihrer Emma bereisten, hätte ich vor jener WM mit Sicherheit auf b) getippt. Da kann man mal sehen. Es ist nicht immer nur das neunmalkluge Feuilleton, sondern zuweilen auch der von der Lesermehrheit leichthin überblätterte Sportteil, der einem den groben Klotz des Allgemeinunwissens ein wenig feiner zu schleifen hilft.

Wobei hier keineswegs unters Schachbrett gekehrt werden soll, dass selbst manch Sportredakteur im Schachspiel nichts wirklich Sportives erkennen kann und folglich die Berichterstattung über das allenfalls denksportliche Figurengeschiebe besser bei den Hirnis vom Feuilleton aufgehoben sähe. Oder aber – Stichwort Computer – bei den Technikheinis vom Wissenressort. Tatsächlich bietet ein Schachmatch (egal ob mit oder ohne Computerbeteiligung) nur wenig von dem, was man gemeinhin mit einem sportlichen Wettbewerb verbindet. Das fängt bei der überwiegend wartezimmerartigen Wettkampfatmosphäre an und hört bei der so gar nicht sportlichen Garderobe der Aktiven noch lange nicht auf. Elegantes Tuch wird da vorwiegend getragen, maßgeschneiderte Herrenkonfektion mitunter samt Schlips und Einstecktüchlein wie bei einem Stehempfang. Die Sportbekleidungsindustrie, sonst für jede noch so abwegige Randsportart eine eigene Ausstattung anbietend, beißt da bei den Schachlern ganz offensichtlich auf Granit. Nicht mal einen speziellen Schachsportschuh hat sie bislang entwickelt.

Vor allem aber ist es die allenfalls brettsteif zu nennende Körperlichkeit der zudem oft schon einigermaßen betagten Akteure, die es einem schwer machen, ein Schachmatch als echte Leibesübung gelten zu lassen. Schweiß, Blut oder Tränen sind jedenfalls nicht gerade die Säfte, die dabei fließen. Einzig der Drang und Abschlag ihres Harns scheint eine irgendwie wesentliche Rolle zu spielen für Schachsportler. Das lässt sich zumindest aus schon erwähnter Toilettenaffäre schließen, die bekanntlich daraus erwuchs, dass Weltmeister Kramnik, nachdem er während einer Partie 50-mal (!) das Klo aufgesucht hatte, vom Schiedsgericht weitere Gänge untersagt wurden. Worauf der aus Protest das Match abbrach.

Die Schachwelt reagierte übrigens kontrovers auf den Vorgang. Kramnik habe doch anbieten können, seine Notdurft direkt am Brett zu verrichten, schlug etwa der bulgarische Großmeister Ilja Balinow vor. Andere Experten unterstützten Kramnik in seinem Verhalten, indem sie die wissenschaftlich erwiesene Konzentrationsabträglichkeit von Harndrang ins Feld führten, wohingegen allerdings Stuhldrang, wie sie aus selbiger Studie zitierten, durchaus als konzentrationsfördernd einzustufen sei. Was auch immer das aussagen soll. Mir ist jedenfalls keine andere Sportart bekannt, in der der Pinkelpause eine ähnlich zentrale Signifikanz zugemessen wird. Offenbar hat der Begriff Ausscheidungswettkampf im Schach eine ganz eigene Bedeutung.

Fotohinweis:Fritz Tietz ist 47 Jahre alt, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport