Triumph mit Tücken

ANALYSE Erdogans Mission ist noch nicht erfüllt, denn für eine Alleinherrschaft braucht das neue Staatsoberhaupt eine neue Verfassung

■ Gewinner: Laut dem türkischen Staatssender TRT haben mehr als zwei Drittel der türkischen Wähler in Deutschland bei der Präsidentenwahl für Erdogan gestimmt. Damit kam der islamisch-konservative bisherige Regierungschef auf fast 69 Prozent der Stimmen.

■ Verlierer: Erdogans Herausforderer Ekmeleddin Ihsanoglu, den die sozialdemokratisch-kemalistische CHP zusammen mit der nationalistischen MHP aufgestellt hatte, erhielt knapp 24 Prozent. Selahattin Demirtas von der prokurdischen HDP kam auf 7,4 Prozent.

■ Wahlbeteiligung: Rund 2,8 Millionen Auslandstürken weltweit – darunter 1,4 Millionen in Deutschland – hatten erstmals die Möglichkeit, außerhalb ihres Heimatlandes abzustimmen. Aber nur rund 8,3 Prozent der Wahlberechtigen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. (dpa, taz)

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Die Verletzungen der Vergangenheit mögen in der alten Türkei bleiben“ – mit dieser Schlagzeile drückte die größte verbliebene Oppositionszeitung Hürriyet am gestrigen Montag die Hoffnung aus, dass der Albtraum, der seit der massiven Repression gegen die Gezi-Proteste vor einem Jahr andauert, nun zu Ende gehen könnte.

Denn seit Sonntagnacht hat ist der zukünftige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan der Erfüllung seines Lebenstraums ein Stück näher gekommen. Deshalb hoffen nun viele TürkInnen, es könnte wieder etwas ruhiger, etwas normaler werden in ihrem Land. Erdogan ist dieser Hoffnung in seiner Siegesrede entgegengekommen: Er bedankte sich auch bei denen, die ihn nicht gewählt haben – und versprach, ein Präsident aller 77 Millionen BürgerInnen zu werden.

Doch die wissen aus Erfahrung, dass die Halbwertzeit der Balkonreden, die Erdogan regelmäßig nach gewonnenen Wahlen hält, oft nur sehr kurz ist. Vorsicht ist angebracht, denn das Freund-Feind-Schema, mit dem der Chef der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) bislang Politik gemacht hat, wird vermutlich noch gebraucht.

Erdogans Mission ist noch längst nicht erfüllt. Als Präsident will er Alleinherrscher werden – und dafür braucht er eine neue Verfassung, die ohne eine entsprechende Mehrheit seiner Partei im Parlament nicht zu haben ist. Daher wird das neue Staatsoberhaupt versuchen, seinen Machtanspruch bis zu den Wahlen im Juni kommenden Jahres über einen neuen Regierungs- und einen neuen Parteichef durchzusetzen, die beide tun, was Erdogan ihnen sagt, obwohl laut geltender Verfassung eigentlich der Premier die Richtlinien der Politik bestimmt.

Angesichts dieser Ziele kann Erdogan trotz des inszenierten Jubels seiner Anhänger am Sonntagabend mit seinem Wahlergebnis nicht zufrieden sein. Die meisten Meinungsumfragen vor den Wahlen hatten ihm 56 bis 58 Prozent der Stimmen versprochen – da sind die 51,8, die es nun geworden sind, eine Enttäuschung. Zumal Erdogan die absolute Mehrheit nur geschafft hat, weil die Wahlbeteiligung mit 72,5 Prozent sehr niedrig war. In absoluten Zahlen hat der Wahlsieger dasselbe Ergebnis erzielt wie seine Partei bei den Kommunalwahlen im März.

Rund 5 Millionen Wähler, die im März die aus sozialdemokratisch-kemalistischer CHP und nationalistischer MHP bestehende Opposition gewählt hatten, sind dieses Mal zu Hause geblieben. Damit hat sich die Taktik, mit Ekmeleddin Ihsanoglu einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, nicht ausgezahlt. Für viele WählerInnen war Ihsanoglu so unattraktiv, dass sie nicht wählen gingen. Wären sie zur Wahl gegangen – Erdogan hätte sich einer Stichwahl stellen müssen.

Der steht jetzt vor dem Problem, im Parlament eine Zweidrittelmehrheit für eine neue Verfassung zu organisieren. Der ursprüngliche Plan, mit einem überwältigen Präsidentschaftswahlsieg im Rücken die Parlamentswahlen auf Herbst dieses Jahres vorzuziehen, um auf der Woge des Erfolgs genügend AKP-Stimmen für eine verfassungsändernde Mehrheit zu bekommen, dürfte angesichts des tatsächlichen Wahlergebnisses erst einmal ad acta gelegt werden.

Stattdessen muss Erdogan nun einen Ministerpräsidenten einsetzen, der sich zum einen an seine Anweisungen hält, andererseits aber auch in der Lage ist, die Partei zusammenzuhalten und die Basis bei Wahlen zu begeistern. Die meisten Beobachter in der Türkei tippen als kommenden Ministerpräsidenten auf den amtierenden Außenminister Ahmet Davutoglu, einen eloquenten Redner und ideologisch gefestigten Islamisten, der auch international eine vorzeigbare Figur macht.

Erdogan hat die absolute Mehrheit nur geschafft, weil die Wahlbeteiligung mit 72,5 Prozent sehr niedrig war

Erdogan hat eine kleine Gruppe ihm absolut ergebener Figuren um sich geschart, die er nun aus dem Sitz des Ministerpräsidenten in den Präsidentenpalast mitnehmen wird. Dazu gehören neben Davutoglu auch Innenminister Efkan Ala, Wirtschaftsberater Yigit Bulut und der Chef des Geheimdienstes, Hakan Fidan. Alle haben sich in der Vergangenheit durch absolute Loyalität ausgezeichnet und sollen nun zukünftig für Erdogan die Regierung managen – entweder als Mitglieder des Kabinetts einer neuen Premiers oder aus der Präsidialbürokratie heraus.

Als Achillesferse könnte sich dabei die Wirtschaftspolitik herausstellen. Der Architekt des türkischen Aufschwungs der letzten zehn Jahre, Vizeministerpräsident Ali Babacan, wird wohl aus der Regierung ausscheiden. Babacan gehört zu den Anhängern des scheidenden Präsidenten Abdullah Gül, für den in Erdogans politischem Fanclub kein Platz mehr vorgesehen ist. Mit Gül und Babacan werden zwei Repräsentanten aus der Gründergeneration der AKP die politische Bühne verlassen, die zum eher liberalen Flügel von Erdogans Partei gehören und nicht zuletzt auch als Personen für Akzeptanz bei ausländischen Anlegern gesorgt haben.

Sollte Bulut Babacan ersetzen, könnte das zu erheblichen Irritationen führen. Bulut ist in der Vergangenheit dadurch aufgefallen, dass er das „internationale Zinskapital“ für die Gezi-Proteste verantwortlich gemacht hat, lauthals verkündete, die Türkei brauche die EU nicht mehr und darüber hinaus zum Besten gab, weltweit gäbe es eigentlich nur zweieinhalb echte politische Führer. Der Ganze sei – neben Erdogan – Wladimir Putin, der Halbe Barack Obama.

Angesichts solcher Einflüsterer scheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass der neue Präsident der Türkei in den kommenden Monaten auf die säkulare Opposition im Land zugehen wird. Auch das Verhältnis zur EU wird sicher nicht besser werden. Allein in der Kurdenfrage sind positive Schritte zu erwarten, da Recep Tayyip Erdogan die kurdischen Stimmen für seine neue Verfassung brauchen wird.