Die Rettung vor dem Grauen

KORRIDOR Im Kampf gegen den islamistischen IS vereinen sich die zerstrittenen Kurden aus dem Irak und der Türkei – und verhelfen so Tausenden Jesiden zur Flucht

ISTANBUL taz | Für die von islamistischen IS-Truppen vertriebenen Jesiden kommt nach einer Woche Not und Verzweiflung endlich Hilfe. Während amerikanische und britische Flugzeuge für die in die Berge bei Sindschar vertriebenen Jesiden aus der Luft Nahrung und Wasser abwarfen, ist es kurdischen Kämpfern am Sonntag gelungen, einen Korridor zu öffnen, durch den die Jesiden in das kurdische Autonomiegebiet in Syrien fliehen konnten.

Nach kurdischen Angaben konnten 20.000 jesidische Flüchtlinge, unter ihnen viele Frauen und Kinder, in Sicherheit gebracht werden. Über Umwege erreichten einige von ihnen das autonome Kurdengebiet im Nordirak, wo bereits Hunderttausende jesidische, turkmenische und christliche Flüchtlinge, die in den letzten Tagen vor dem IS geflohen waren, notdürftig in Lagern untergebracht wurden. Weitere 20.000 jesidische Flüchtlinge sollen nach wie vor ohne Nahrung und Wasser im Gebirge herumirren.

Bei dem vor gut einer Woche begonnenen Vormarsch der sunnitischen Terrortruppe im Nordirak sollen zahlreiche Grausamkeiten an den Minderheiten der Turkmenen, Jesiden und Christen begangen worden sein. Kurdische Quellen berichteten von Hunderten ermordeten Kindern, die vor den Augen ihrer Eltern abgeschlachtet worden sein sollen, um größtmögliche Panik zu verbreiten.

Die USA setzten am Sonntag ihre Luftangriffe gegen Artilleriestellungen des IS fort und verhinderten damit, dass die Islamisten weiter gegen Erbil, die Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion, vormarschieren konnten. Allerdings ist es den kurdischen Kämpfern bislang nicht gelungen, die Islamisten zurückzudrängen. Sie stehen noch immer nur 40 Kilometer vor Erbil, im Ort Mahmur, in dem sich seit mehr als 20 Jahren auch ein großes Flüchtlingslager für Kurden aus der Türkei befindet. Die tödliche Gefahr für das Kurdengebiet im Nordirak hat dazu geführt, dass sich die bislang eher verfeindeten Peschmerga und die Kämpfer der aus der Türkei stammenden PKK gegen den IS zusammengeschlossen haben. Die PKK veröffentlichte am Samstag im Internet Videos von einer großen Gruppe PKK-Militanter, die in Kirkuk einfuhr, um die dortigen kurdischen Truppen zu verstärken. Auch an der Befreiung der eingekesselten Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge waren PKK Kämpfer nach eigenen Angaben maßgeblich beteiligt.

Während die USA, Großbritannien und Frankreich sich mittlerweile humanitär im Nordirak engagieren, ist von der direkt an das Kriegsgebiet angrenzenden Türkei wenig zu sehen. Im Gegenteil, berichten jesidische und turkmenische Flüchtlinge, türkische Grenztruppen würden sie daran hindern, sich in der Türkei in Sicherheit zu bringen. Am Freitag warfen Oppositionsabgeordnete im Parlament in Ankara der Regierung vor, sie würde selbst von Turkmenen Pässe sehen wollen, obwohl doch klar sei, dass fast kein einziger der turkmenischen Flüchtlinge einen Pass besitze. Dasselbe gelte für die Jesiden.

Der Parlamentskorrespondent der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet, Cakir Özer, berichtete gestern, die türkische Regierung hätte sich in Washington gegen den Einsatz der US-Luftwaffe gegen IS gewandt. Aus diesem Grund würden die US-Kampfbomber auch nicht von dem nahegelegenen US-Stützpunkt Incirlik an der türkischen Südküste starten, sondern von dem viel weiter entfernten Flugzeugträger „George W. Bush“ im Persischen Golf. Offiziell begründet die türkische Regierung ihre Haltung damit, dass nach wie vor 49 Konsulatsmitarbeiter, die IS bei ihrer Eroberung von Mossul im Juni als Geiseln genommen hatte, in der Gewalt der Terroristen seien. Viele türkische Oppositionspolitiker glauben allerdings, die Regierung Erdogan arbeite nach wie vor insgeheim gegen die kurdische PKK.

JÜRGEN GOTTSCHLICH