Das Herz der Bewegung

AUS HANNOVER JÜRGEN VOGES

„Da war damals Wald“, sagt Marianne Fritzen und zeigt auf die Atomanlagen von Gorleben. „Die Kreisstraße hier war damals nur ein schmaler Weg, bei Gegenverkehr musste man auf den Seitenstreifen ausweichen.“ Die heute 83-Jährige hat im März 1977 zusammen mit 15.000 anderen das erste Mal gegen eines der industriellen Prestigeobjekte der damaligen Zeit demonstriert: ein riesiges Entsorgungszentrum für Atommüll im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg. Aber angesichts massiver Proteste schrumpfte das Großprojekt. Die Anlage, auf die Marianne Fritzen zeigt, ist gerade einmal einen halben Quadratkilometer groß.

Heute vor genau 30 Jahren erkor der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) das Gelände um den Salzstock Gorleben zum Bauplatz für ein deutsches „Nationales Entsorgungszentrum“ (NEZ) für Atommüll. Am nächsten Tag alarmierten rund 200 AKW-Gegner mit einem Autokorso den auch hannoversches Wendland genannten Landkreis. Noch einmal acht Tage später gründeten Atomkraftgegner, die vorher gegen ein Kraftwerk im wendländischen Langendorf an der Elbe aktiv waren, die „Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.“ Marianne Fritzen wurde damals zur allerersten Vorsitzenden der Initiative gewählt.

In vielen deutschen Städten bildeten sich Gorleben-Freundeskreise, über hundert waren es bald. AKW-Gegner machten Aufforstungsaktionen. Sie pflanzten jungen Bäume auf dem Gelände, auf dem das Entsorgungszentrum gebaut werden sollte. Im Wendland wurden selbst CDU-treue Bauern zu Gegnern des atomaren Entsorgungsparks, als das ganze Ausmaß der geplanten Anlagen deutlich wurde. „Zwölf Quadratkilometer hatten die für das Entsorgungszentrum vorgesehen“, sagt Marianne Fritzen. Neben der Endlager im Salzstock sollten Abklingbecken zur nassen Zwischenlagerung gebaut werden. Als Herzstück war eine Wiederaufarbeitungsanlage und zur Verarbeitung des aus alten Brennstäben extrahierten Plutoniums auch eine Fabrik für Brennelemente geplant.

Meist friedliche Proteste

Prägend für den Widerstand gegen die Gorlebener Atomanlagen wurden dann Zusammenspiel wie Rivalitäten zwischen der einheimischen Landbevölkerung und den Auswärtigen. Dies waren zumeist junge und radikale Nach-68er aus der großen Anti-AKW-Bewegung der 70er-Jahre. Im März 1979 zogen 3.000 Wendländer im „Gorlebener Treck“ in die Landeshauptstadt Hannover. 300 von ihnen waren auf ihren Traktoren unterwegs. 100.000 Demonstranten empfingen die Wendländer. Angesichts des großes politischen Drucks und weil ein Störfall im US-Atomkraftwerk Harrisburg zeitgleich weltweit Aufsehen erregte, verzichtete Regierungschef Albrecht auf die geplante Wiederaufarbeitungsanlage. Sie galt als politisch nicht mehr durchsetzbar. Jahre später scheiterte Albrecht auch mit dem Plan, weiter westlich in Draghan bei Dannenberg eine Anlage zur Wiederaufbereitung von Atommüll zu errichten.

Die wendländischen AKW-GegnerInnen kämpften auch in den 80er-Jahren gegen End- und Zwischenlager – vor allem mit Mitteln des gewaltfreien Widerstands. Im Mai 1980 besetzten 5.000 Menschen die Bohrstelle 1004 für das Endlager. Sie errichteten aus Holz und Zelten ein kleines Dorf, welches einen Monat lang stehen blieb. In dieser Republik „Freies Wendland“ lebten die Protestierenden einen Monat lang, bevor die Polizei räumte und die Häuser zerstörte.

Neben dieser wohl spektakulärsten Aktion gab es auch viele kleinere: Atomkraftgegner behinderten die Arbeiter mit Sitzblockaden, ketteten sich an Bäume, die gefällt werden sollten, oder versperrten mit Autos und Bäumen die Straßen. Sehr beliebt war es auch, das so genannte „Niemandsland“ zu besetzen. Dies war ein nominell zur DDR gehörender Streifen Land, der jedoch noch vor dem Grenzzaun lag.

Hin und wieder allerdings lieferten sich die Demonstranten auch durchaus handfeste Auseinandersetzung mit der damals oft äußert brutal agierenden Polizei. So flogen Steine, nachdem die Ordnungsmacht Hochdruckwasserwerfer gegen friedliche Sitzblockierer eingesetzt hatte. Der Strahl dieser Fahrzeuge entfaltete eine derartige Wucht, dass Knochen brachen. Und Maschinen oder Fahrzeuge von beim Zwischenlagerbau tätigen Firmen gingen nächtens im Dutzend in Flammen auf.

Manche der Auswärtigen, die in den 80er-Jahren den wendländischen AKW-Gegnern ihre Sympathie bekundeten, rückten später mit der rot-grünen Bundesregierung in höchste Ämter auf. So der einstige Juso-Vorsitzende und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die Hoffnung auf das Aus für die Gorlebener Atomanlagen, die manche Wendländer mit ihrem Aufstieg verbanden, erfüllte sich jedoch nicht.

Andere Auswärtige, die den Landkreis Lüchow-Dannenberg während des Protestes gegen ein Endlager kennengelernt hatten, ließen sich im Laufe der Jahre dort nieder. Aus Landkommunarden wurden auf diese Weise oftmals Biobauern. Aus dem Kreis der Zugewanderten speiste sich auch die Kunst- und Alternativszene des Wendlandes, die für ein derart abgelegenes Gebiet außergewöhnlich groß ist.

Und Gorleben war auch der Garant für das Überleben der Anti-Atom-Bewegung. Während diese in den 90er-Jahren bundesweit zunehmend an Bedeutung verlor, ist sie im Wendland stark geblieben. Nach dem Sieg über Albrecht wurden die Castor-Transporte zum neuen Brennpunkt des Widerstands. Noch heute sind die Initiativen aus der Region die treibenden Kräfte im Anti-Atom-Protest.

Im Laufe der Jahre stellte auch so mancher Aktivist der wendländischen Notgemeinschaft seinen Hof auf Biolandbau um. Nach Angaben von Landrat Jürgen Schulz (parteilos) wird mittlerweile 20 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche im Kreis Lüchow-Dannenberg biologisch bewirtschaftet. Der Landkreis sei zudem bei Biogasanlagen führend, auch nachwachsende Rohstoffe würden angebaut. Im vor 30 Jahren tiefschwarzen Wendland steht mit Schulz heute ein Politiker an der Spitze der Kommunalverwaltung, der „die friedliche Nutzung der Kernkraft grundsätzlich kritisiert“.

Deutscher Müll kehrt zurück

Ein Dogmatiker ist Schulz jedoch nicht. Er sei bin prinzipiell bereit, konstruktive Lösungen dafür zu finden, was mit dem Atommüll geschehen soll, sagt er. Schließlich verschwinde der Atommüll auch nach einem Abschalten der AKWs nicht einfach und müsse irgendwo gelagert werden. Vor einer Entscheidung für den Salzstock Gorleben müsse man aber „mindestens Alternativen erkunden“. Schließlich sei es bei jedem Verkehrsprojekt vor einer Entscheidung Gang und Gäbe, dass auch andere Optionen geprüft werden.

Das Bergwerk, welches ein Endlager werden sollte, liegt eineinhalb Kilometer südwestlich von Gorleben – links der Kreisstraße, die heute so gut ausgebaut ist. Auf dem rund einen halben Quadratkilometer großen Gelände führen zwei Schächte in den Salzstock hinab. Unten hatten die Bergleute bis zu dem Moratorium, mit dem Rot-Grün im Jahr 2000 die vorläufige Einstellung der Arbeiten verfügte, auch schon einen Teil der für die Endlagerung notwendigen Stollen in das Salz getrieben. Das etwas kleinere Zwischenlager liegt etwa 300 Meter entfernt rechts der Straße hinter einen begrünten Wall. Es beherbergt neben der 182 Meter langen, für die Wärmeabfuhr offenen Castor-Halle auch das so genannte Fasslager mit schwach und mittel radioaktiven Abfällen. Außerdem steht dort die sogenannte „Pilot-Konditionierungsanlage“ (PKA). Diese Anlage besteht aus einer heißen Zelle, in der im Störfall defekte Castor-Behälter geöffnet werden könnten. Die Mehrzweckanlage wurde aber auch für das Umpacken hochradioaktiven Mülls aus Castoren in Endlagerbehälter konzipiert. Genutzt wurde sie noch nicht.

Dafür stehen in der Zwischenlagerhalle seit dem zehnten Castor-Transport im vergangenem November bereits 80 Behälter mit hochradioaktivem Müll. Platz wäre in der Halle für 420 Castoren, doch aufnehmen soll sie nur insgesamt knapp 140 Behälter. Das liegt am Atomkonsens, den die Bundesregierung im Jahr 2000 mit den AKW-Betreibern ausgehandelt hat. Seitdem müssen die Atomkraftwerke ihren radioaktiven Müll in ihrer Nähe zwischenlagern. In die Gorlebener Castor-Halle kommen seitdem nur noch die hochradioaktiven Überreste der Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente im Ausland.

Aus Frankreich sollen in den Jahren 2008 bis 2010 noch drei Transporte mit je zwölf Behältern voller Abfälle aus Wiederaufbereitungsanlagen eintreffen. Später kommen noch 24 Behälter aus England hinzu. Danach soll nach derzeitigem Planungsstand mit den Castor-Transporten nach Gorleben erst mal Schluss sein.

Schnell ändern könnte sich das allerdings, wenn der Salzstock Gorleben doch weiter zum Endlager ausgebaut würde. Die sogenannte Erkundung des Salzstocks, die jetzt vor allem die Atompolitiker der CDU/CSU-Fraktion und der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff schnell zu Ende bringen wollen, ist nämlich mit dem Bau eines Endlagers Gorleben weitgehend identisch. Denn um zu prüfen, ob sich Gorleben für ein Endlager eignet, treibt man genau die Stollen ins Erdreich, die später für eine Lagerung des Atommülls gebraucht werden

Das entspricht faktisch dem Bau eines Endlagers, findet die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Deshalb fordert sie auch seit Jahren ein atomrechtliches Genehmigungsverfahren. Damit haben sich die Anti-AKW-Aktivisten in mehreren Gerichtsverfahren aber bisher nicht durchsetzen können.

„Das riesige Nukleare Entsorgungszentrum haben wir verhindert“, sagt Marianne Fritzen. Ob Gorleben mit End- und Zwischenlager doch noch zu einem wenn auch viel kleineren deutschen Entsorgungszentrum wird, ist nach ihrer Ansicht offen. Die 83-Jährige wird einfach weiter dagegen kämpfen, dass der Atommüll endgültig nach Gorleben kommt.