berliner szenen Im Sound zu Hause

Die Schnauze

Lange habe ich darauf gewartet. Habe jeden genau angeschaut, die Oberlippe und die Unterlippe. Habe übersehene Bartstoppel entdeckt, Herpes, weichen Flaum Pubertierender, verschmierten Lippenstift und grünes Gemüse zwischen bleach-weißen Zähnen. Und dann hätte ich das, wonach ich in all diesen Gesichtern gesucht hatte, beinahe verpasst.

Doch im Supermarkt war es plötzlich da. Beim Mann hinter mir an der Kasse. Erst stellt er fest, wie wunderbar ich stehe. Es dauert, bis die Ironie in mein morgenmüdes Gehirn sickert. Es dauert so lange, dass der Mann vorsichtshalber noch mal laut stöhnt. „Oh“, sag ich und rücke meine Einkäufe ein bisschen weiter vor auf dem Band. Jetzt hat er Platz für seinen Kasten Bier. Er haut das Ding, das man Warentrenner nennt, zwischen meinen Salat und den Kasten. Baut in diesem Wilmersdorfer Supermarkt eine Mauer zwischen uns, dabei hat die Kassiererin längst gesehen, wem was gehört. Salat: junge Frau, die immer passend Kleingeld hat. Bier: böser Mann.

Schon brummt er etwas von „nischt inne Birne“ und „zu viel verlangt“ in seinen Bart. Mein Morgen trübt ganz langsam ein, da wird mir im letzten Moment klar: Das ist sie. Meine erste Berliner Schnauze, die so unfreundlich ist, wie es sich gehört. Fast ein Jahr habe ich darauf gewartet. Ich spüre, wie ich mit einem Mal richtig ankomme in der Stadt. Aufgeregt überlege ich, ob ich den Warentrenner schwungvoll hinter seinen Kasten legen soll: „Zur Feier des Tages, der geht auf mich.“ Aber dann denke ich, nee, bin ja jetzt in Berlin. Stattdessen strahle ich ihn an. „Ooch noch frech wern, wa?“, meint er. Auf dem Heimweg versuche ich dieses „Ooch noch frech wern, wa?“ möglichst stilecht vor mich hin zu murmeln. Klingt irgendwie gut. LENA HACH