Der Rest vom Risiko

SICHERHEIT Die Katastrophe in Fukushima war wohl unvermeidbar. Die alte Debatte beginntvon Neuem: Wie viel atomares Risiko ist akzeptabel?

VON BERNHARD PÖTTER

„In Fukushima ist keine wissenschaftliche Überraschung passiert“, sagt Lothar Hahn. „Jeder Experte kennt dieses Szenario einer Kernschmelze.“ Für den ehemaligen Chef der Reaktorsicherheitskommission (RSK) des Bundes hat sich in Japan „in klassischer Weise das Restrisiko der Atomkraft realisiert“, über das in den vergangenen Jahrzehnten die Gegner und Befürworter der Atomkraft gestritten haben. „Es ist der Vorfall, der laut Statistik einmal alle 10.000 oder 100.000 Jahre passieren dürfte.“

Der Vorlauf zur Havarie in Fukushima Daiichi I folgte offenbar „Murphys Gesetz“: Was schiefgehen kann, geht schief. Am Anfang steht ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 9 – deutlich mehr als die 8,3 für die die AKW im erdbebenerprobten Japan ausgelegt sind. Durch das Beben fällt die Stromversorgung für die Kühlwasserpumpen aus. Die Diesel-Notaggregate springen an, werden aber eine Stunde später von dem Tsunami überflutet und zerstört. Das dritte Kühlsystem, das laut der internationalen Atomenergiebehörde zum Teil aus Batterien gespeist wird, kann die Glut im Reaktor nicht mehr ausreichend bändigen.

Wettlauf mit der Zeit

Was nun passiert, wurde schon lange in den Lehrbüchern diskutiert: Der Reaktorkern wird bis zu 2.500 Grad Celsius heiß, so dass er das Wasser im Kühlkreislauf in Wasserstoff aufspaltet. Mit dem freigesetzten Sauerstoff bildet sich ein explosives Gemisch, das sich irgendwann an einem Funken entzündet. Die Explosion zerreißt das Außengebäude des Reaktors, radioaktives Gas tritt aus und wird immer wieder abgelassen, um den Druck im Kessel zu senken. Die Kernschmelze läuft im derzeit offenbar noch intakten Druckbehälter ab. „Es ist nach wie vor ein Wettlauf mit der Zeit, ob die Behörden es schaffen, den Reaktor so weit zu kühlen, um das Durchschmelzen zu verhindern“, sagt Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital.

Die Kernschmelze von Fukushima war offenbar kaum zu vermeiden: Anders als etwa bei der Katastrophe von Tschernobyl 1986 kann man nicht von einem Bedienungsfehler ausgehen, sondern von „Mehrfachblockaden, die bisher so noch nicht aufgetreten sind“, wie es Wolfgang Renneberg, ehemaliger Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium sagt. Wolfgang Sailer vom Öko-Institut betont, dass in Deutschland „die gleichen Reaktoren wie in Japan“ stehen. „Es ist daher falsch zu sagen, dass hier solche Unfälle unmöglich sind.“ Man müsse durchspielen, was bei einem Ausfall der Stromversorgung aller Sicherheitssystem passiert. Der wahrscheinlichste Grund dafür laut Sailer: nicht Erdbeben, sondern unerkannte Konstruktionsmängel, Wartungsfehler oder ein Flugzeugabsturz auf einen Reaktor. Das Deutsche Atomforum dagegen, der Lobbyverein der Atomwirtschaft, versuchte diese Debatte schnell zu beenden: Eine „Verkettung eines derart schweren Erdbebens und eines schweren Tsunamis ist in Deutschland nicht vorstellbar“.

Damit lebt eine alte Debatte wieder auf: Wie viel Restrisiko ist beim Betrieb von AKW zumutbar? „Nach den Regeln der praktischen Vernunft“ sei das „bei uns äußerst geringe Restrisiko verantwortbar“, erklärte der damalige CDU-Forschungsminister Heinz Riesenhuber nach Tschernobyl. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1978 geurteilt, die Bevölkerung habe bei der Atomkraft ein „sozialadäquates Risiko“ zu tragen. Das seien allerdings „hypothetische Risiken, die nach dem Stand der Wissenschaft unbekannt, aber nicht auszuschließen“ seien. Ein Jahr später, nach der Havarie von Harrisburg, war eine Kernschmelze aber schon kein hypothetisches Risiko mehr.

Ohne das Wort „Restrisiko“ zu erwähnen, hat Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) eine neue Debatte angeregt. Japan sei ein hochtechnisiertes Land, betonte er, „und trotzdem ist das dort passiert. Die Beherrschbarkeit von Gefahren ist neu gestellt und wir werden uns ihr zuwenden.“

Was eine neue Debatte über das nukleare Restrisiko bedeuten würde – etwa die Rücknahme der umstrittenen längeren AKW-Laufzeiten – wollte Röttgen so kurz nach der Katastrophe nicht diskutieren. Das tat dann RWE-Vorstand Gerd Jäger: Die längeren Laufzeiten würde nicht neu bewertet. „Wie in allen Lebensbereichen“ gebe es beim Betreib von AKW eben „Restrisiken, die es zu minimieren gilt“.

Mit dpa und dapd