Vom Wahnsinn unterm Apfelbaum

DAS VERGESSENE REZEPT Es kann gefährlich sein, einen Schrebergarten zu besitzen

■ 6 Klaräpfel

■ 2 kleine Zwiebeln

■ 1 mittelgroße Kartoffel

■ 1 Liter Kalbsfond (oder Brühe)

■ 150 Gramm Pfifferlinge

■ 80 Gramm geräucherter Bauchspeck

■ geröstete Weißbrotwürfel

■ Petersilie

Zwiebel fein schneiden, in Butter andünsten und mit Kalbsfond oder Brühe aufgießen. Klaräpfel und Kartoffel schälen, würfeln und dazugeben. Sechzig Minuten köcheln. Klein geschnittenen Bauchspeck mit den Pfifferlingen anbraten; mit Petersilie, Salz und Pfeffer würzen. Pilze in einen vorgewärmten Teller geben, mit der Klarapfelsuppe auffüllen, geröstete Weißbrotwürfel darüber streuen.

VON PHILIPP MAUSSHARDT

Es freut mich sehr, dass man in Berlin jetzt auch Tomaten pflanzt. Jedenfalls lese ich in letzter Zeit viele Berichte, wonach sich die Großstädter sogar auf dem Tempelhofer Feld kleine Gärten anlegen und in ihrer Freizeit dort hacken und gießen. Diese großstädtisch denkenden und fühlenden Menschen wollen sich aber auf keinen Fall mit der Spezies des „Schrebergärtners“ verwechseln lassen, einem typisch deutschen Archetypus, den man in Kreuzberger Kneipen auch gerne mit einem Gartenzwerg verwechselt. Nein, der großstädtische Kleingärtner nennt sich „urban gardener“, was wohl bedeuten soll, dass er etwas ganz Neues erfunden hat.

Wir Kleinstädter begrüßen diese Entwicklung naturgemäß und senden die allerbesten Laubenpiepergrüße in die Metropole. Gerne stehen wir den „urban gardenern“ mit Tipps zur Schneckenbekämpfung oder mit Bauanleitungen für Hochbeete zu Verfügung. Wir empfehlen außerdem, die unnützen Park- und Alleenbäume der Hauptstadt gegen Früchte tragende Sorten auszutauschen. „Unter den Linden“ klingt zwar nach großer Welt, „unter den Apfelbäumen“ wäre aber wesentlich sinnvoller und aus der „Karl-Marx-Allee“ wäre ohne große Tiefbauarbeiten schnell eine „Williams-Christ-Allee“ gemacht. Pappeln raus, Birnbäume rein. Immerhin soll dort schon einen einsamer kleiner Aprikosenbaum stehen.

Die städtischen Grünflächen als Obst- und Gemüselieferant. Diese Idee hätte meiner Tante Irene sehr gefallen. Sie hat mehr als die Hälfte ihres inzwischen 80-jährigen Lebens in ihrem „Gütle“ verbracht, so heißen in unserer Gegend die Grundstücke, die jeder anständige Mensch entweder besitzen oder wenigstens pachten sollte, will er von seinen Nachbarn ernst genommen werden. Tante Irene und Onkel Walter waren vorbildliche Kleingärtner. Sie pflegten die Obstbäume, mähten regelmäßig den Rasen und hatten ihre Hütte zu einem zweiten Wohnzimmer ausgebaut – mit Eckbank und Rasenteppich. Ende Juli waren die ersten Äpfel reif. Sie hießen „Klaräpfel“, eine der ganz frühen Sorten.

Warum ich Tante Irene erwähne? Wer glaubt, das Züchten von Tomaten oder das Pflegen von Obstbäumen mache „einfach nur Spaß“, sollte auch die Fortsetzung der Geschichte lesen. Nachdem die alte Tante ihr Grundstück den Großnichten vermacht hatte, rissen die pubertierenden Gören als Erstes die Eckbank aus der Hütte, warfen den Rasenteppich auf den Kompost und besprühten das Innere der Gartenlaube mit Graffiti, um wilde Feste dort zu feiern.

Eines Tages machte sich meine Tante auf, ihren schönen alten Garten zu besichtigen. Sie kämpfte sich durch das kniehohe Gras, vorbei an den verwilderten Apfelbäumen zur Hütte und öffnete die Tür. Der Rest steht in den Krankenakten des psychiatrischen Landeskrankenhauses.

Ich besuchte sie sechs Tage nach ihrer Einlieferung. Sie hatte noch vom Garten aus ihren Mann angerufen und angekündigt, sich mit einer Gartenschere die Pulsadern aufzuschneiden. Onkel Walter rief den Notarzt, der lieferte die Tante wegen Suizidgefahr in die Klink ein.

Tante Irene saß in ihrem Zimmer und war sehr traurig über das Gartenverständnis der jungen Generation. Sie erzählte von den schönen Klaräpfeln, die sie und ihr Walter immer schon Mitte Juli geerntet hatten.

Die Essecke: Philipp Maußhardt schreibt hier jeden Monat über vergessene Rezepte. Sarah Wiener komponiert aus einer Zutat drei Gerichte, Jörn Kabisch spricht mit Praktikern der Küche, und unsere Korrespondenten berichten, was in ihren Ländern auf der Straße gegessen wird