IN DER TÜRKEI WIRD DIE „BELEIDIGUNG DES TÜRKENTUMS“ STRAFBAR BLEIBEN
: Gradmesser der Toleranz

Nach dem Mord an dem armenischen Publizisten und Bürgerrechtler Hrant Dink schien es für einen kurzen Moment so, als seien sich jetzt alle einig: Der Strafgesetzartikel 301, der die „Beleidigung des Türkentums“ mit Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren ahndet, muss abgeschafft werden. Auf seiner Grundlage waren Hrant Dink und Orhan Pamuk an den Pranger gestellt worden. Doch schon jetzt, knapp drei Wochen nach dem Mord, sieht alles schon wieder ganz anders aus.

Geschickt hatte Ministerpräsident Erdogan das Problem weitergereicht und zehn große Verbände aufgefordert, der Regierung einen Vorschlag zur Modifizierung der umstrittenen Strafvorschrift machen. So hoffte er, sich Vorwürfe aus der nationalistischen Ecke zu ersparen. Doch die Verbände, darunter Gewerkschaften und Standesorganisationen, konnten sich auch nach wochenlangem Ringen nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen. Somit ist klar, dass es eine grundlegende Veränderung oder gar Abschaffung dieses Gesinnungsparagrafen nicht geben wird.

Ein Gesetz, das eine wie immer geartete Verunglimpfung des „Türkentums“ unter Strafe stellt, wird es auch weiterhin geben, weil der überwiegende Teil der türkischen Gesellschaft es so will. Sollen wir uns etwa schämen, Türken zu sein?, so fragten die Nationalisten, und diese Parole hat verfangen. Doch die Debatte um den Paragrafen 301, dessen Abschaffung auch die EU-Kommission fordert, ist auch ein Gradmesser für die gesellschaftliche Toleranz gegenüber kritischen Stimmen.

Dass die Mehrheit in der Türkei eine Abschaffung ablehnt, ist Ausdruck eines zunehmenden Nationalismus, der verschiedene Ursachen hat: Modernisierungsverlierer, die sich in Nationalismus flüchten; ein Bildungssystem, in dem Stolz auf die eigene Nation so gut wie nie hinterfragt wird; aber auch die Enttäuschung über die Zurückweisung vieler EU-Staaten und die Ängste und Verunsicherung, die der Krieg im Irak schürt.

Die Wahlen in diesem Jahr, so steht zu befürchten, werden diesen nationalistischen Trend noch weiter verstärken. JÜRGEN GOTTSCHLICH