„Verengten Blick erweitern“

Vortragsreihe reflektiert Umgang mit Holocaust

■ 46, lehrt als Gast am Hamburger Institut für Sozialforschung. 2010 erschien „Gefühlte Opfer: Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“.

taz: Frau Jureit, Sie sagen, dass sich die Deutschen in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus mit den Opfern identifizieren.

Ulrike Jureit: Ja, seit den 1960er Jahren ist dies gewachsen. Es hat sich eine politische Kultur herausgebildet, die sich stark den Opfern zuwendet.

Wie kommt es zu dieser Identifizierung?

Es ist offenbar besser auszuhalten. Die Phase der Opferidentifizierung halte ich für wichtig, denn sie hat dazu geführt, zu vermitteln, welches Ausmaß die Verbrechen erreicht hatten.

Die Phase dauert schon sehr lange.

Ja, aber aber die Identifizierung mit den Opfern führt immer häufiger zu einem Unbehagen. Denn seit 1989 sind wir auch mit anderen Fragen konfrontiert: dem Stalinismus und den Kontroversen um ein Europäisches Gedächtnis.

Was schlagen Sie vor?

Die Frage ist, wie gehen wir mit dem Holocaust in einer Einwanderungsgesellschaft um? Wollen wir den Anspruch erheben, dass Menschen, die hier in der dritten Generation leben und teilweise eigene familiäre Verfolgungsgeschichten haben, auf unseren Schulddiskurs verpflichtet werden?

Erleben wir gerade einen Umschwung?

Nein, aber eine Erweiterung. Wir tendieren dazu, uns stark auf den Nationalsozialismus zu konzentrieren. Das verengt unseren Blick. INTERVIEW: LEA BAUMEYER

„Wem gehört der Holocaust?“: 20 Uhr, Hamburger Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36