61 Jahre im märkischen Sand

Heinz Wolf hat Glück. Er wird nicht verscharrt oder mit Tannengrün zugedeckt. Er kriegt ein eigenes Grab

AUS HALBE THOMAS GERLACH

Heinz Wolf ist Jahrgang 1928 und wohnt seit dem 7. August 2002 im brandenburgischen Halbe. Davor wohnte er seit 1945 einige Kilometer südlich im Dörfchen Rietzneuendorf. Es ist dort sicher beschaulich zugegangen für den gebürtigen Franken, doch auch in Halbe hat er es gut: Randlage, Kiefernwald und immer frische Luft. Genau das Richtige für einen Rentner. Nur dass er nie Rentner geworden ist – Heinz Wolf wurde nicht mal volljährig. Er liegt im Block acht, Reihe elf, Ernst-Teichmann-Straße, Waldfriedhof Halbe – an einem Ort, den er zu Lebzeiten nie gesehen hat.

Ein ruhiger Platz alles in allem, doch in den vergangenen Jahren ist es jeweils am Samstag vor dem Volkstrauertag laut geworden – beim „Heldengedenken“ in Halbe, das neue und alte Nazis zelebrieren, um die deutschen Soldaten zu ehren, weil sie sich „mit todesverachtender Tapferkeit dem Ansturm der Horden der Roten Armee“ entgegengestellt haben. So rühmen sie es auf ihrer Homepage, als hätte jemand in Halbe nur ein großes Spektakel inszeniert.

Den Nazis hat nun das Bundesverfassungsgericht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Gestern bestätigte es die Auflage des Berlin-Brandenburger Oberverwaltungsgerichts, wonach die Rechtsextremisten den Friedhof nicht betreten, sondern nur den Bahnhofsvorplatz von Halbe nutzen dürfen. Der Organisator, Rechtsextremenführer Christian Worch aus Hamburg, hatte allerdings mit dem Urteil schon gerechnet und deshalb für heute eine Ausweichveranstaltung auf dem Friedhof im 100 Kilometer entfernten Seelow im Oderbruch angemeldet. Dort sind etwa 600 deutsche Soldaten begraben.

Der sieben Hektar große Friedhof in Halbe ist letzte Wohnung für über 20.000 Gefallene im märkischen Sand. Rechts und links von Heinz Wolf liegen unbekannte deutsche Soldaten akkurat in Reih und Glied – als wollten sie dem Chaos vom April 1945 ein für alle Mal entkommen. Eichen- und Birkenlaub fegt über die Gräber. Der Wind macht Herbstputz. Ungestüm, wie er ist, hat er Blumentöpfe umgeworfen. Namentlich sind hier achttausend Tote bekannt. Heinz Wolf liegt unter einer roten Granitplatte – ein Bursche, den es eigentlich aufs Meer hinauszog. Er hat es wohl nie gesehen. Wenn man von Wilhelmshaven und dem Jadebusen einmal absieht.

50 Kilometer nördlich des Friedhofs liegt in einem langgestreckten Backsteinbau in Berlin-Reinickendorf ein handgeschriebener Zettel von Heinz Wolf. „Ich habe mich beim WBK Coburg als Kriegsfreiwilliger zur Ableistung meiner aktiven Dienstzeit gemeldet und bitte, als solcher bei der Kriegsmarine eingestellt zu werden.“ Diese mit „Erklärung“ überschriebene Bitte setzte er am 26. Januar 1945 in Wilhelmshaven auf, da war er sechzehneinhalb und gemustert, hatte eine Lehre als Weber hinter sich und noch drei Monate Leben vor sich. „Wer weiß, warum er sich zur Marine gemeldet hat“, sagt Michael Dürre und blickt vom Hefter auf. Er arbeitet in der „Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“, Referat Gräber.

Hier in der Behörde in Berlin ging für alle der Krieg zu Ende, zumindest als Verwaltungsvorgang – ob sie nun erkrankt, verwundet, gefallen oder verschollen waren. Oder überlebt haben. In dem Backsteinbau hat Heinz Wolf eine Art zweites, papiernes Zuhause. Karteikarten, gestempelte Zettel, Handschriftliches, Erkennungsmarken, Wehrpässe, aber auch Ringe, Taschenuhren, Zigarettenetuis: Alles, was vom Soldaten übrigbleibt, findet sich hier. Übrig bleiben vor allem kleine, akkurat gezogene blaue Kreuze auf den Karten der Zentralkartei – Zeichen für „gefallen“.

Auch die Karte von Heinz Wolf trägt das Kreuz. Michael Dürre hat Wolfs Hefter auf das Fensterbrett gelegt. Erklärungen über seine arische Abstammung, der Wehrpass, das Wehrstammbuch, die Erkennungsmarke und eben der Wunsch, zur Marine zu kommen. Vielleicht war es Abenteuerlust. Oder der Traum eines Jungen aus den Bergen.

Doch die 14. Marineersatzabteilung in Wilhelmshaven hat für Heinz Wolf keine Verwendung mehr. Sie ist im Winter 1945 mit dem Transport von Soldaten und Zivilisten über die Ostsee beschäftigt. Wolf erhält den Marschbefehl nach Posen, das zur Festung erklärt worden ist. Aus der Traum vom Meer. „Um Posen, Bromberg und Thorn wird erbittert gekämpft,“ meldet der Wehrmachtsbericht am 26. Januar. Heinz Wolf hat Posen nicht mehr erreicht.

„Er ist vermutlich irgendwo östlich von Frankfurt (Oder) steckengeblieben“, mutmaßt Michael Dürre. Die Jeans und die weißen Turnschuhe verleihen Dürre etwas Dynamisches, sein grauer, leicht aufwärts gebürsteter Schnurrbart macht ihn hingegen aristokratisch. Michael Dürre ist ein ruhiger Zeitgenosse. Seine Arbeit verlangt Exaktheit, kein Tempo. Hier ist eh alles zu spät. Die Schlacht ist verloren, der Krieg vorbei. Nun wird durchgezählt – seit 61 Jahren. 3,2 Millionen gefallene Wehrmachtssoldaten, dazu 1,1 Millionen Vermisste, macht etwa 3.600 Tonnen Akten. Heinz Wolfs Anteil daran wiegt höchstens 500 Gramm.

Wolfs Heimatort möge doch ungenannt bleiben, bittet Michael Dürre beim Abschied wie ein Vormund. Zwar sei der Fall seit 1946 geklärt, seien die Eltern damals informiert worden, dennoch keine Hinweise, bitte. Eigentlich ist Wolfs Heimat sowieso inzwischen Brandenburg. Was sind 16 Jahre Oberfranken gegen 61 Jahre märkischer Sand?

Den Weg dorthin muss er mit der 9. Panzerarmee unter General Theodor Busse über Frankfurt (Oder) genommen haben. Da ist das, was von den Truppen nach der Schlacht um die Seelower Höhen übriggeblieben ist, jedoch schon in der Zange: Im Norden stößt die 1. Belorussische Front nach Berlin vor. Im Süden setzt die 1. Ukrainische Front bei Forst über die Neiße und stürmt ebenfalls auf Berlin zu – wo Hitler im Bunker der Reichskanzlei sitzt. Und irgendwo mittendrin sitzt auch Heinz Wolf.

Am 24. April schließt die Rote Armee den Ring um die 9. Panzerarmee. General Busse lehnt eine Kapitulation ab und versucht in der Nacht zum 29. April einen Ausbruch. Dabei kommt es in Halbe auf der Lindenstraße zwischen Bahnübergang und Bäckerei zum Gemetzel, in dessen Chaos Deutsche auf Deutsche schießen. Heinz Wolf ist da wohl schon tot, gefallen bei Rietzneuendorf. Mit ihm sterben etwa 30.000 deutsche Soldaten, 10.000 Zivilisten und Zwangsarbeiter und etwa 20.000 Sowjetsoldaten.

Heinz Wolf hat Glück. Er wird nicht verscharrt oder mit Tannengrün zugedeckt, sondern bekommt ein eigenes Grab. Am 19. März 1946 stellt der Landrat des Kreises Luckau seinen Eltern ein beglaubigtes Schreiben zu, dass Heinz Wolf auf dem Friedhof von Rietzneuendorf liegt. Der Mutter wird außerdem das Soldbuch zugeschickt. Damit endet das Leben von Heinz Wolf. Nur noch einmal gibt es ein offizielles Schriftstück, anlässlich von Heinz Wolfs Umzug auf den Waldfriedhof von Halbe. Der Abschlussbericht zum Umbettungsprotokoll datiert vom 12. August 2002.

Unweit des Bahnübergangs von Halbe, wo sich im April 1945 die zerschossenen Leichen stapelten, in der Kirchstraße 6, liegt die Alte Schule, ein gelber Backsteinbau. Die gesamte Kirchstraße ist derzeit Baustelle. Straßendecke und Gehwege werden erneuert, Schächte gegraben. In Halbe schachten die Arbeiter besonders gewissenhaft, den Munitionsbergedienst stets an ihrer Seite. Nicht nur Granaten werden geortet – auch Munitionskisten, Karabiner, Feldflaschen, Gasmasken, Essbesteck, Rasierer, Stahlhelme und vieles mehr. Ein Teil davon ist seit März vorigen Jahres in der Alten Schule ausgestellt, seit dort die Denkwerkstatt eröffnet hat, eine Einrichtung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der Gemeinde Halbe mit Unterstützung eines Berliner Architektenbüros.

Seitdem kennt auch der 47 Jahre alte Theo Fontana Heinz Wolf. Dass Wolf sein Leben lassen musste, erklärt sich Fontana so: Gefallen seien vor allem die Soldaten der Waffen-SS und die Halbwüchsigen. Die älteren Wehrmachtssoldaten hatten mehr Erfahrung und damit mehr Chancen, durchzukommen. Die Leute der Waffen-SS wussten, was ihnen blüht. Die Jungen wussten nichts.

Theo Fontana leitet die Denkwerkstatt Halbe, die als Antwort auf die regelmäßigen Naziaufmärsche eröffnet wurde. Er erzählt, dass den Einwohnern von Halbe allmählich klar wurde, dass sie etwas tun müssen; spätestens als sich herumgesprochen hatte, dass Hamburger Neonazis für die nächsten Jahre Demonstrationen vorbeugend angemeldet haben sollen. Das Land Brandenburg unterstütze die Denkwerkstatt mit 25.000 Euro pro Jahr, auch habe sich ein lokaler Beirat gegründet, so Fontana. Er selbst bekommt sein Gehalt von der Kriegsgräberfürsorge. Die Denkwerkstatt ist ein Projekt mit äußerst knappen Mitteln, ihre Räume sind karg. Es gibt den Raum der Geschichte mit einem Abriss der NS-Zeit, den Raum der Fragen, in dem Briefe von Angehörigen der Gefallenen ausgestellt sind, den Raum der Lebenden, wo Zeitzeugen berichten, und den Raum der Toten.

Dort empfängt Heinz Wolf die Besucher – als stiller, jugendlicher Zeitzeuge. Schulklassen gehen vorbei, Bundeswehrsoldaten, Einheimische. Heinz Wolf schaut mit festem Blick aus seinem Foto, das am 18. Juli 1944 aufgenommen wurde. Irgendwann soll die Denkwerkstatt eine Jugendbegegnungsstätte werden. „Die Leute sollen sich hier selbst ihre Meinung erarbeiten“, sagt Theo Fontana. Ob Heinz Wolf mit den rechtsextremen Aufmärschen der jüngsten Vergangenheit in Halbe heute etwas anfangen könnte? Mit Heldenverehrung und Pflichtliedern, Kampfbünden, Ritterkreuzträgern und, seit kurzem, NPD-Landtagsabgeordneten? Er hatte andere Interessen. Als besondere Fähigkeiten, man könnte sagen, Hobbys, ließ er bei der Musterung Folgendes eintragen: Radfahren und Skifahren.