berliner szenen Drama Queen

Der neue Nachbar

Es ist einfach nur ein Haus im Prenzlauer Berg. In den kleineren Wohnungen leben Studenten, in den größeren junge Familien. Die Kinder spielen im Hof in der Sandkiste, während ihre Eltern daneben auf der Bank sitzen. Niemand hier ist älter als vierzig, und alle kaufen bei der Bio Company. Abends, wenn rund um den Innenhof die Lichter angehen, kann man vom Balkon aus in die Wohnungen der anderen schauen, auf Ikea-Möbel, Futons und Computerbildschirme.

An einem Samstagmorgen, als sich gerade die ersten Eltern mit ihren Kindern auf dem Hofspielplatz eingefunden haben, öffnet der junge Mann im vierten Stock des Quergebäudes die Fenster seines Wohnzimmers. Lang wohnt er noch nicht hier, aber mit seinen schwarz gefärbten Haaren und dem alten Ledermantel war er allen sofort aufgefallen. Jetzt nimmt er einen Strick, befestigt ihn mit einem sorgfältigen Knoten am Fensterkreuz und knüpft eine Schlinge, die er sich um den Hals legt. Eine der Mütter bemerkt ihn und ruft ihm etwas zu, zückt dann ein Handy. Auch die Studentin aus seiner Nachbarwohnung spricht jetzt zu ihm, vom Sandkasten aus. Nach kurzem Zögern nimmt der junge Mann den Strick vom Hals und löst den Knoten. Hoch erhobenen Kopfes lässt er sich später von der Polizei abführen, an den Nachbarn vorbei, die sich mittlerweile fast alle im Hof versammelt haben.

Nach fünf Tagen ist der junge Mann mit den schwarz gefärbten Haaren und dem Ledermantel wieder zurück. Die meiste Zeit sitzt er in seinem Zimmer auf dem Sofa und raucht, im Dunkeln sieht man das Glühen seiner Zigarette. Nicht einmal der Fernseher läuft. Am späten Nachmittag, wenn das Sonnenlicht durch seine Fenster fällt, schließt er die Vorhänge. KOLJA MENSING