Der Migration das Wort erteilen

Das Theater als Integrationsanstalt: In Stuttgart wird „Medea“ von einem Chor türkischstämmiger Frauen begleitet

Was denken türkischstämmige Frauen in Deutschland? Fühlen sie sich als Fremde zwischen den Kulturen? Am Staatstheater Stuttgart haben sich Hausregisseur Volker Lösch und Dramaturgin Beate Seidel diese Fragen gestellt. Integration und mangelnde Verständigung zwischen den Bevölkerungsgruppen dieser Gesellschaft sind hierbei entscheidende motivgebende Aspekte.

Weil es aber kein passendes Stück dazu gibt, sahen die beiden Theatermacher sich um und entdeckten Euripides’ „Medea“ aus dem Jahr 431 v. Chr. Die aus Kolchis stammende Medea ist schließlich eine Fremde im griechischen Korinth. Zusätzlich luden sie 16 türkischstämmige Frauen ein, fast alle Laien, und schrieben mit ihnen Texte über ihre Erfahrungen. Diese jetzt aufgeführten, chorisch gesprochenen Texte sowie ausgewählte Passagen aus der „Medea“ sollten gemeinsam ein Ganzes ergeben. Aber der Versuch der Integration der Textteile führte direkt in die Parallelinszenierung: Der Zuschauer sieht letztlich zwei Inszenierungen, die sich am selben Abend abwechselnd die Bühne teilen.

Der Vorhang hebt sich, türkische Popmusik dröhnt aus den Lautsprechern, und 19 Frauen (die Laiendarstellerinnen werden von drei Staatsschauspielerinnen unterstützt) tanzen vor einer grauen Drehwand wie auf einer lustigen Teenagerparty. Eine trägt ein Kopftuch, die anderen haben die Haare offen oder zum Zopf geflochten. Ihre Röcke, Hosen und Blusen in braunen, roten, lila und pinkfarbenen Tönen bilden einen starken Kontrast zu Carola Reuthers grauer Bühne, die in ihrer Abstraktheit wie ein großer Aktenschrank wirkt, in dem die Akten von Immigranten liegen – rechts, links, hinten nichts als graue Wände mit kleinen dunklen Löchern, in der Bühnenmitte die sich immer wieder im Kreis drehende Wand. Der Zuschauer sieht quasi, wie die in den Akten abgehandelten, stumm schlafenden Schicksale auf der Bühne zum Leben erwachen.

Der Chor erzählt also die Lebensläufe dieser Frauen, erzählt von innerfamiliärer Gewalt, Unterdrückung, von unsensiblen, gefühlskalten Begegnungen mit deutschen Beamten, Lehrern, Nachbarn, zeigt auch einmal in großer Stille die Frauen in betender Haltung. Weil der Chor unter Leitung von Bernd Freytag allerdings nicht stets synchron spricht, sind die Geschichten nur zum Teil verständlich – dadurch geht ein zentraler Sinn der Inszenierung verloren. Eingeschnitten in das Oratorium der Migration sind die Euripides-Szenen sowie die Auftritte eines Herrn mit Alukoffer, der mit seinen gestanzten Fragen etwa wie ein Einbürgerungsbeamter daherkommt. Medea wird dabei abwechselnd vom Chor und den drei Schauspielerinnen verkörpert, ohne dass durch dieses kollektive Bemühen die furchtbare Größe der Figur nachvollziehbar werden würde.

Zur Erinnerung: Euripides’ „Medea“ ist ein Ehe-Eifersuchts-Drama, in dem eine in ihrem Stolz zutiefst gekränkte Frau sich dafür rächt, dass ihr Mann Jason sie wegen einer anderen Frau verlässt; dabei hat sie für Jason ihre Familie im Stich gelassen und ihm zum Goldenen Vlies von Kolchis verholfen. Nur am Rande geht es dabei um den Hintergrund ihrer Herkunft. Und genau das ist das Problem dieser ansonsten in ihrer Dynamik durchaus gelungenen Doppelinszenierung: Sie ist thematisch überfrachtet, und es gelingt ihr nicht, ihre Themen ausreichend zu konturieren.

Denn was Medea macht – sich für eine intime Kränkung und einen ungeheuerlichen Loyalitätsbruch zu rächen –, hat nur noch wenig mit einer migrantischen Disposition zu tun. Medeas Geschichte ist universell, sie ereignet sich immer wieder und in allen Bereichen der Gesellschaft. Ihre Varianten werden in den Zeitungen unter dem Stichwort „Familientragödie“ rubriziert.

Darüber hinaus hat Löschs Team paradoxerweise die Titelheldin des Abends zum Teil entmündigt. Denn Medea bleibt die Fremde, die man nicht richtig zu Wort kommen lässt, die ihren Text nur stückweise sprechen darf. So konterkariert die Inszenierung partiell ihr Anliegen, Medeas Geschichte als stellvertretende Legende zu erzählen.

Am Ende leuchten die kleinen Löcher in den Bühnenwänden auf, Disco-Atmosphäre breitet sich aus, zur lauten Musik tanzen die Frauen fröhlich, als wollten sie sagen, wir sind angekommen – in einem selbstbestimmten Leben.

MATTHIAS CHRISTIAN MÜLLER