Raus aus Zeit und Raum

Die Ausstellung „Gasthäuser. Geschichte und Kultur“ im Freiluftmuseum Domäne Dahlem unternimmt kneipenethnologische Erkundungen in die Vergangenheit

Kneipenethnologie – ungefähr darum geht es einer Ausstellung in Berlins Südwesten. Da, wo die Großstadt an einer Reed-gedeckten U-Bahnstation kurz zum Dorf wird. Zu Dahlem Dorf mit seinem geduckten „Alten Krug“, wohin die Menschen zu Braten und Schnitzel kommen. Das eigentliche Freilichtmuseum aber steht dem Wirtshaus gegenüber, die Domäne Dahlem: Streichelbauernhof, kulturhistorisches Museum und als solches Mitglied des Ausstellungsverbundes „Arbeiten und Leben auf dem Lande“.

Während die Freilichtmuseen in Cloppenburg, Kiekeberg oder Bad Windsheim aber tatsächlich aus den regionalen Archiven eines sogenannten Landlebens schöpfen können, bleibt Dahlem nur die mühsame Aufgabe einer doppelten Rekonstruktion. Im Falle der Ausstellung „Gasthäuser. Geschichte und Kultur“, die zu großen Teilen am Fränkischen Freilichtmuseum Bad Windsheim entstanden ist, heißt das: Von Berlin aus betrachtet ist die Schau nicht nur eine Zeit-, sondern auch eine Raumreise. Hinaus aus der Großstadt, hinein in die Provinz. Hinein in die Gasthäuser mit ihren gusseisernen Zunftschildern, den blankgesessenen Stammtischbänken und den Kerbhölzern einer speziellen Kreditkultur – trinke heute, zahle später.

Der Ausstellungsparcours führt zunächst durch eine vormoderne Welt. Einzig die faszinierenden Schilderungen aus dem 1930 am Potsdamer Platz eröffneten Haus Vaterland bilden ein originär urbanes Thema. Und was für eines: Vier Stockwerke, 12.500 Glühbirnen, jährlich mehrere Millionen Besucher – die Restaurantlandschaft mit ihrem Löwenbräukeller, der spanischen Hazienda und einer sechs Meter tiefen Rheinkulisse wäre allein eine Ausstellung wert. Das Haus Vaterland ist eine tolle Folie der deutschen Identitätsgeschichte wie auch der Wurzeln der Erlebnisgesellschaft.

Ansonsten fühlt sich die Ausstellung in entschwundener Zeit und an verschwundenen Orten besonders wohl – die lakonischen Fotografien verlassener Dorf- und Vorstadtgasthöfe erzählen eindrücklich von Landflucht und Schrumpfungsprozessen. Weniger glücklich wirkt hingegen der Brückenschlag in die Populärkultur der Nachkriegsmoderne. So referiert der Ausstellungsteil „Modern!“ über die Ankunft der italienischen und griechischen Küche in der BRD. Und vergisst, dass ihr Auftauchen gerade eine Flucht vor dem Zwang zur Modernisierung war: In der inszenierten Authentizität einer Pizzeria suchten die Deutschen, diese Heimatvertriebenen, genau jene Ursprünglichkeit, die ihnen die Moderne so gründlich ausgetrieben hatte. Natursteinimitate, Butzenscheiben, großkarierte Tischdecken – die ästhetischen Ausformungen dieser Sehnsucht sind noch allenthalben greifbar.

„Modern!“ waren andere Orte. Oder, für die Ausstellung gesprochen, wären andere Orte gewesen. Das Restaurant Kornhaus in Dessau etwa: kühn geschwungene Bauhaus-Architektur von 1930. Oder die Systemgastronomie der Autobahnraststätten und Fastfoodketten mit ihrer rationalisierten Gastlichkeit.

Die Ausstellungsmacher allerdings mögen sich unter einem Gasthaus nichts anderes als ein Gasthaus vorstellen. Und so schwächelt die kulturhistorische Rückschau ab dem Punkt, an dem die Gasthäuser selbst zu schwächeln begannen. Die Rauminstallation zu den plastikbunten 60ern, die Flipperautomaten und die Frucade-Werbung meint man schon in einer Friedrichshainer Kneipe gesehen zu haben. Dort ist sie hippe Retro-Inszenierung, hier dagegen nur plumper Erinnerungskitsch – und in beiden Fällen ein nichts signifizierendes Weiden an den Zeichen.

Und auch Indiz einer musealen Krise: Wenn die Exponate alltäglich werden, darf ihre Präsentation genau das nicht mehr sein. Sonst werden Kuratoren zu bloßen Kulissenschreinern einer diffusen Erinnerungslandschaft.

CLEMENS NIEDENTHAL

Bis 31. 12., Freilichtmuseum Domäne Dahlem, tägl. außer Di. 10–18 Uhr