„Mit dem TGV-Zug in Richtung Gottesstaat“

In Algerien schreitet die Islamisierung voran. Die Politik der Aussöhnung zwischen Staat und Islamisten ist gescheitert. Sie war nur ein Manöver, um die Verbrechen der Militärs vergessen zu lassen, sagt der Literat Boualem Sansal

BOUALEM SANSAL, 58, ist Schriftsteller. Vor acht Jahren schrieb er mit „Schwur der Barbaren“ seinen ersten Roman. Mittlerweile hat der in Frankreich preisgekrönte Schriftsteller sechs Bücher veröffentlicht. In Algerien sind sie verboten. Die Kulturministerin erklärte ihn zur „unerwünschten Person“. Er verlor, ohne Begründung, seinen Job als Beamter im Industrieministerium. Sein Roman „Harraga“ erscheint im Herbst auf Deutsch.

taz: Herr Sansal, waren die islamistischen Anschläge vom 11. April in Algier isolierte Aktionen, wie die algerische Regierung meint? Oder waren diese Bomben der Auftakt einer neuen Welle von Gewalt?

Boualem Sansal: Es gibt keine isolierten terroristischen Aktionen. Die Gewalt in Algerien hat eine lange Geschichte, und sie wird so schnell nicht aufhören. Was am 11. April geschah, war absehbar. Es gab bereits zuvor fünf koordinierte Bombenschläge auf Polizeistationen in der Kabylei.

In Frankreich meinen manche, es handle sich nicht um eine Tat von al-Qaida, sondern um die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Clans im Staats- und Militärapparat.

Es gab schon immer Beziehungen zwischen der Macht und den Islamisten. Sind die Generäle direkt in die Anschläge verwickelt? Ich glaube, sie sind vielmehr an einer laxen Haltung der Armee schuld. Im Zuge der Politik der nationalen Aussöhnung wurde die Armee fast völlig demobilisiert. Die einzige Struktur, die noch funktioniert, ist der militärische Geheimdienst. Und der wusste sicher schon im Vorfeld von den Anschlägen. Sie haben die Islamisten einfach machen lassen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der Präsident ist krank, die Nachfolge offen. Die Regierung will außerdem die Verfassung ändern und die Armee an den Rand drängen. All das liegt jetzt, nach den Bomben vom 11. April, auf Eis.

Also droht die nationale Aussöhnung zu scheitern?

Was für eine nationale Aussöhnung? Für eine Aussöhnung braucht es für Wahrheit und Gerechtigkeit? Davon sind wir weit entfernt. Die sogenannte nationale Aussöhnung ist nichts weiter als eine Operation, um die Generäle reinzuwaschen. Ende der 90er-Jahre wurden die Generäle von überallher beschuldigt, Verbrechen begangen zu haben. Algerien war völlig isoliert. Die Forderung nach einem internationalen Gerichtshof wurde laut. Also musste jemand her, der im Ausland Ansehen genoss und eine vermeintlich neue Politik verkaufen konnte. Diese Rolle spielt Präsident Bouteflika. Aber die Aussöhnung gibt es nicht. Denn nur ein Teil der Islamisten hat eingewilligt. Die salafistischen Gruppen, die sich jetzt al-Qaida Maghreb nennen, machen weiter. Dennoch war diese Politik für das Regime erfolgreich. Niemand spricht mehr von den Generälen und ihren Verbrechen.

Aber die Lage ist doch viel ruhiger als zuvor. Viele Algerier scheinen mit der Aussöhnungspolitik zufrieden zu sein.

Klar, die Armee hat sich zurückgezogen, und im Gegenzug haben weite Teile der Islamisten ihrer Wiedereingliederung zugestimmt. Sie sind aus den Bergen gekommen und warten jetzt erst einmal ab. Doch diese Ruhe ist sehr trügerisch.

Die Algerier scheinen das Interesse an ihrer eigenen Politik so ziemlich verloren zu haben. Die Wahl in Frankreich war in Algerien ein großes Thema – doch die algerischen Parlamentswahlen am 17. Mai interessieren hier kaum jemanden. Warum?

Die Menschen hier sind ständig mit ihrem Kopf in Frankreich. Nicht nur, wenn es um Wahlen geht. Alle Welt will ein Visum. Sie schauen französisches Fernsehen, sie wollen französische Produkte. Es interessiert kaum jemanden, was hier in Algerien passiert. Nicht nur, wenn es um die Politik geht, sondern auch hinsichtlich der sozialen und kulturellen Lage.

Das ist doch schizophren. Algerien ist 1962 unabhängig.

Algerien ist unabhängig. Die Algerier sind es nicht. Für die Algerier dauerte die Unabhängigkeit 1962 gerade einmal 48 Stunden. Dann kam es zu einem Staatsstreich, und seither ist das Land in den Händen des militärischen Geheimdienstes und der Einheitspartei. Die Algerier leben die Demokratie per Telepathie. Die Menschen dürstet es nach Demokratie, aber sie findet nur außerhalb, in Frankreich, statt.

Dank des hohen Erdölpreises hat Algerien eine zweite Chance. Wird man sie zu nutzen wissen?

Das Erdöl ist keine Chance, es ist ein Fluch. Keiner weiß, wohin das Geld geht. Der Ölpreis liegt bei 60 bis 70 Dollar. In den Büchern wird es nur mit 19 Dollar veranschlagt, und auf diesen Preis werden Steuern erhoben, mit denen der Staat sich finanziert. Offiziell heißt es, der Rest werde in einem Fonds angelegt. Doch dies unterliegt keinerlei Kontrolle.

Sie sind einer der letzten kritischen Intellektuellen, der noch in Algerien lebt. Was hält Sie hier?

Mmmhhh, das ist schwer zu sagen … Heftige Kritik kann man nicht vom Ausland her ausüben, sie ist nur wenig glaubwürdig. Deshalb bin ich wohl noch hier.

Sie wollten immer ein demokratisches, laizistisches Algerien. Die Entwicklung geht in die entgegengesetzte Richtung.

Die Islamisierung schreitet extrem schnell voran. Mit Bouteflika sitzen wir in einem TGV Richtung Islam. Der Ruf zur Predigt wird dank Boutelflika im Fernsehen übertragen. Das gab es nie. Er hat frankophone Privatschulen schließen lassen. In Boumerdes, wo ich wohne, gab es früher eine Moschee. Jetzt sind es dreißig. Bei 20.000 Einwohnern.

Hat jemand wie Sie mit seiner Kritik da überhaupt noch eine Zukunft?

Nein. Anders als in der Türkei gibt es hier keine starke laizistische Strömung. In der Türkei ist die Islamisierung ebenfalls in vollem Gange. Aber das Land entwickelt sich wirtschaftlich und gesellschaftlich, und es öffnet sich. Algerien nicht. Die Islamisierung wird von der Regierung vorangetrieben. Das Bildungsniveau geht zurück. Intellektuelle, die einst die Trennung von Religion und Staat vertraten, gehen jetzt in die Moschee.

INTERVIEW: REINER WANDLER