Am Anfang war ein Schulausflug

ZEITGESCHICHTE 2014 ist für den norddeutschen Jugendherbergs-Verband Nordmark ein Jubiläumsjahr: Er wird 100 Jahre alt. Immer wieder stand er vor dem Aus, immer wieder hat er neue Erfolge gefeiert – und das dank seines stetigen Wandels, ohne dabei seine Kernidee zu verlieren. Eine Zeitreise

VON PHILIPP WEBER

Der 27. war ein Regentag. Jeder starrte trübselig vor sich hin. Traurig schauten auch die anderen Wanderer zum Fenster hinaus. Plötzlich rannte ein Junge von unserer Klasse in den Tagesraum, rief: „Kommt schnell mal raus in den Vorraum, da sind Norweger.“ Jener Regentag in der ehemaligen Kieler Jugendherberge Bellevue, wie ihn eine Schülerin mit dem Namen Linda darstellt, spielte sich im August 1952 ab.

Mehr als 60 Jahre sind seit dem Zusammentreffen von deutschen Schülern und Norwegern vergangen, und nichts hat sich in den norddeutschen Jugendherbergen seither verändert – und doch so viel! So beschreibt es der Historiker Josef Schmid von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte.

Die Jugendlichen unterhielten sich damals in gebrochenem Deutsch, wie der Bericht der Schülerin Linda weiter verrät, und sie erlebten an jenem Tag das, wofür Jugendherbergen schon immer stehen: Gemeinschaft – der Kerngedanke, der heute genauso aktuell ist, wie vor 60 Jahren, ja sogar vor 100.

Denn der norddeutsche Jugendherbergs-Landesverband „Nordmark e.V.“ wird in diesem Jahr 100. Zwar sei der Wandel seit den ersten provisorischen Jugendherbergen unübersehbar, aber seine Anliegen – Gemeinschaft, ein attraktives Freizeitangebot und ein Bewusstsein für die Natur zu schaffen – hätten sich nie geändert, sagt Schmid, der seit gut eineinhalb Jahren die Historie der norddeutschen Jugendherbergen erforscht. Schon immer wollte man mehr sein, als ein gewöhnliches Hotel und mehr als nur eine preisgünstige Übernachtungsstätte.

Alles begann am 28. Mai 1914. 27 Repräsentanten aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck gründeten damals den Vorläufer des heutigen Nordmark-Verbandes.

Bereits fünf Jahre zuvor, im Sommer 1909, so die Überlieferung, war die Idee der Jugendherberge für Gesamtdeutschland geboren worden – eine Idee, die im Laufe des 20. Jahrhunderts weltweit auf Zuspruch stoßen sollte. Der Lehrer Richard Schirrmann, so heißt es, kam mit seinen Schülern bei einer mehrtägigen Wanderung von Altena im Sauerland nach Aachen in ein Gewitter. Ein Bauer verwehrte die Übernachtung in einer Scheune, gab ihnen jedoch etwas Stroh. Also übernachteten die Schüler in einer nahe gelegenen Schule. Ein Erlebnis, das den Lehrer auf die Idee brachte, flächendeckend Jugendherbergen zu bauen: Die erste entstand in Altena.

Bis die Idee von Altena nach Altona kam, sollten nur wenige Jahre vergehen. Schon in den 1920ern wurden norddeutsche Herbergen von Gästen überrannt. „Noch ist das Jahr nicht zu Ende, und schon jetzt werden rund 10.000 Gäste gezählt. Das bedeutet gegenüber dem Vorjahre eine Steigerung von über 30 Prozent“, steht in einem Bericht über die ehemalige Altonaer Jugendherberge „An der Allee“.

Auch die Folgen werden geschildert: Klagen über unzureichende Wascheinrichtungen und Toiletten. „Für 150 Lagerstätten sind für männliche Besucher nur drei und für weibliche Besucher gleichfalls drei Aborte vorhanden“.

Ohnehin waren viele der Jugendherbergen der Anfangsjahre provisorisch eingerichtet – etwa als Behelfswohnstätten in Schulen. Erst 1925 leistete sich der Verband, der seit 1920 unter dem Namen „Nordmark“ auftritt, eine eigene Jugendherberge in Büsum. Und bis die erste feste Jugendherberge in Hamburg entstand, sollte es noch bis in die 1950er dauern. Das überrascht nicht, denn trotz des großen Zuspruchs war der Aufbau der Jugendherbergen kein Selbstläufer.

Den ersten Rückschlag erlitt der Verband, als es noch gar nicht recht losgegangen war: Der Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914 stoppte die ersten Pläne. Nach der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik schrumpfte sein Barvermögen auf 45 Pfennig; bald folgte die nächste Wirtschaftskrise. „Es gab immer wieder Punkte, wo der Verband am Ende schien. Doch er hat durchgehalten“, resümiert Schmid.

Viel mehr aber noch: Er hat trotz der vielen Schwierigkeiten große Erfolge erzielt. Von 1920 bis 1922 stieg die Zahl der Herbergen von 56 auf 124 – eine nie wieder erreichte Zahl. Die Herbergen warben mit ihrer Überparteilichkeit und Offenheit. Die nahm durch Hitler und die NSDAP zu Beginn der 1930er-Jahre aber ein rasches Ende. 1934 rühmte sich der damalige Vorsitzende, er habe alle Quertreiber auf schnellstem Wege ausgeschaltet.

Im selben Jahr wurde in Hamburg das Jugendherbergsschiff Hein Godenwind eingeweiht. Begleitet von 100.000 Mitgliedern der Hitlerjugend, wurde die Einweihung des Schiffes als Nazi-Propagandashow inszeniert. Während des Zweiten Weltkriegs dienten dann viele Herbergen als Lazarette, bevor sie – auch das Herbergsschiff Hein Godenwind – im Laufe des Krieges zerstört wurden.

Doch schon zwei Jahre nach Kriegsende wurde erste Versöhnungsarbeit geleistet: 1947 setzten britische und deutsche Jugendliche in Hamburg gemeinsam eine Behelfsherberge instand. Vielleicht, sagt Historiker Schmid, habe das damit zu tun, dass viele aus der Herbergsbewegung mit den NS-Methoden nicht einverstanden gewesen waren.

Und jene Schüler, die im August 1952 in Kiel einen Regentag erlebten? Auch Linda und ihre Klassenkameraden lernten neben den Norwegern Engländer kennen: „Wir unterhielten uns mit ihnen in englischer und deutscher Sprache. Bei ihnen war ein Däne. Sie zeigten uns englisches, belgisches, dänisches, schwedisches Geld.“ Nach dem zweiten Weltkrieg förderte der Verband immer stärker seine internationale Ausrichtung.

Die Ziele, denen sich die Gründer der Herbergen in den Anfangsjahren verschrieben hatten, wurden nun konsequent umgesetzt: Ein pluralistisch-liberaler Ansatz, wirtschaftliches Augenmaß und eine hohe Anpassungsfähigkeit hätten in den Nachkriegsjahren den Erfolg der Nordmark-Jugendherbergen forciert, sagt Historiker Schmid.

Anfang der 1980er begann der Verband, Jugendherbergen behindertengerecht auszubauen. Auch die Umwelterziehung wird seither verstärkt – mittlerweile ist er Satzungszweck des Verbandes. Und schließlich öffnet man sich in die Breite – insbesondere für Familien. Für Schmid ein Meilenstein: „Man kann sagen, dass der Verband mit seiner Hinwendung zu den Familien ab seinem 75. Geburtstag im Jahr 1989 erwachsen geworden ist.“

Doch die Weiterentwicklung verlief nicht immer reibungslos: Sind die Schließzeiten zeitgemäß? Wie geht man mit den Jugendlichen um, die per Moped kommen? Und die Raucherzimmer wurden kurz nach ihrer Einführung wieder abgeschafft.

Eins blieb dagegen immer gleich: „Damals wie heute braucht man im Umgang mit Jugendlichen viel Fingerspitzengefühl“, sagt Schmid. „Jugendliche sind auch früher ausgebüxt.“ Gerade wenn das Angebot der Nacht so nah liegt. 1953 eröffnete Hamburg seine erste eigene Groß-Jugendherberge auf dem Stintfang, ganz nah bei Reeperbahn und Hafen. Neben den klaren Regeln war für viele Herbergseltern trotzdem immer klar: Überzeugen statt Verbote.

Um seine Kernidee – Gemeinschaft erleben – attraktiv zu halten, hat sich in 100 Jahren Nordmark viel verändert: Aus provisorischen Matratzenlagern sind moderne Unterkünfte geworden. Wo man früher rechtzeitig per Post buchen musste, steht heute ein modernes Online-Buchungssystem zur Verfügung. Und wo es früher unumgängliche Schließzeiten gab, sind manche Jugendherbergen heute rund um die Uhr geöffnet. Ein Symbol aber bleibt: Offiziell liegt die Regelschließzeit bei 22 Uhr.