Haste mal ’nen Dollar für alle?

John Cale schafft es: Er spielt sich durch Velvet-Underground-Klassiker und sein Solo-Oeuvre, ohne dabei nur lahmer Gralshüter zu sein. Im Postbahnhof gab er ein meisterliches Konzert, zugleich schweinsdreckig und präzisionssauber

VON HARALD FRICKE

Konzerte von John Cale sind eine sichere Bank. Wer sonst verfügt schon über ein Repertoire aus 40 Jahren, bei dem sich Songs für Velvet Underground und die Coverversion von Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“ sowie lederkrachender Rock und Ballettmusik die Hand reichen? Und auch daran, dass diese Artenvielfalt auf der Bühne nicht zum Gemischtwarenladen gerät, hat Cale gearbeitet: Mittlerweile kommt er fast jedes Jahr auf Tournee nach Berlin, nur um die Stücke mal solo am Klavier oder auf der Akustikgitarre zu spielen, während sie dann beim nächsten Mal mit einer Band in Grund und Boden gerockt werden.

Dieses Mal war so ein nächstes Mal. „Dirty Ass Rock ’n’ Roll“ von einem Mann, der mit bald 65 Jahren hoch energisch auf der Bühne herumwieselt. Das weiße Hemd hängt ihm aus der Hose, der Schlips baumelt schief am Hals, die Haare sind von Designerfriseuren in Downtown New York formschön zerrupft worden, das Gesicht ist verwittert, aber der Teint stimmt. Man kann sich Cale als einen jüngeren Bruder von Dustin Hoffman vorstellen, der ja bekanntermaßen gerne über die eigene Alterskauzigkeit lacht.

Bei Cale findet sich der Sinn für Humor in einem gut zehnminütigen Feedback wieder, das als Warm-up vor dem Auftritt vom vorproduzierten Band in die halb gefüllte Halle des Postbahnhofs geblasen wird. Ein Liebesgruß an La Monte Young, der in den 60er-Jahren ein Guru für Cale war? Oder doch eher eine Verbeugung vor Tony Conrad, dem anderen Drone-Virtuosen dieser Zeit?

Nach dem minimalistischen Intro-Gebrumme ist man jedenfalls angenehm dicht in den Ohren, zugleich aber auch extrem aufnahmebereit für die fein ziselierten Schichten aus Noise, die Cale und seine drei Begleitmusiker in den folgenden zwei Stunden produzieren. Wobei es fast egal ist, ob sie sich nun über „Pablo Picasso“, „Hanky Panky Nohow“ oder „Save Us“ hermachen: All diese ursprünglich brüchig schnarrenden Lieder, die um die Mitte der 70er-Jahre herum entstanden, sind auf die Höhe eines modernen Power-Amp-Sounds gebracht, der keine Unschärfen und kein analoges Rauschen kennt. Zwischendurch werden Electro-Sprengsel vom 2005 veröffentlichten Album „Black Acetate“ eingestreut, ohne dass der Zeitsprung auffallen würde. Alles greift ineinander, alles schiebt, fiept und hat Platz.

Cale hat ein Faible für solche crispy Klangbilder. Für richtig schweinösen Fichtelrock ist die Präzision allerdings immer ein bisschen zu klar konturiert, wirkt diese Maschine namens Band stets zu beherrscht, selbst wenn sie losjazzt und sonst wie Chaos produziert. Vielleicht ist das aber auch der größte Spaß, den man heutzutage mit dreckigärschigem Rock ’n’ Roll haben kann: immer schön sauber dabei zu bleiben. Keine Selbstverluste, keine Verausgabungsrituale und auch keine naiv losstolpernde Triebabfuhr, stattdessen einfach nur das zählebige Stehertum, wie es wahlweise Iggy Pop auf der Bühne zelebriert.

Auch Cale ist lange schon runter vom Kaputtness-Trip. Die existenzielle Inbrunst, mit der er sich früher Songs wie „Gun“ oder „Mercenaries (Ready for War)“ vom Leib schreien musste, hat sich in eine Art weißen Gospel verwandelt, die Stimme reißt nicht mehr hysterisch aus, sie singt sich atemberaubend schön selbst noch durch die fatalistischsten Texte. Als Cale in dem Stück „Hobo Sapiens“ zu der Zeile „I wish I had a dollar for everyone“ kommt, sieht man tatsächlich den mildtätigen Bobo vor sich, der auf den Straßen von Manhattan weggibt, was er gerade auf Tasche hat. Und als er zum Schluss die Geige umschnallt, um die leiernde Melodie von „Venus in Furs“ zu schaben, ist er weniger ein Gralshüter aus der Warhol’schen Factory, sondern der gebührend harte, fachkundige Interpret eines Klassikers.