Nach Beslan

Aslan durfte überleben, 330 andere mussten sterben. „Ich will niemals vergessen, was geschehen ist“, sagt er, „das bin ich den Toten schuldig“

AUS SANKT PETERSBURGELKE SPANNER

Wer es hierher geschafft hat, gilt zu Hause in Beslan als Gewinner. Aslan Birseijew gibt sich redlich Mühe, sich nun auch wie ein Gewinner zu fühlen, aber es gelingt ihm einfach nicht. Er hat seinen Verstand bemüht. Immer wieder hat er sich selbst ermahnt, dass er eine Chance wie diese nur einmal im Leben bekommt. Wenn überhaupt. Er hat sich fest vorgenommen, das Heimweh zu übersehen, das sein ständiger Begleiter ist, hier auf den Straßen von St. Petersburg. Pflichtschuldig antwortet er „Ja“ auf die Frage, ob er froh über das Studium fernab seiner Heimatstadt Beslan ist. Hartnäckig starrt er zu Boden, über Minuten, sein Blick könnte etwas anderes sagen.

Es ist später Nachmittag, und im Wohnheim am Lesnoi Prospekt in St. Petersburg machen sich die Studenten zum abendlichen Ausgehen bereit. Der Chick mancher Studenten betont die Nüchternheit des langen Wohnheimflurs, dem Neonröhren die Gemütlichkeit eines U-Bahn-Schachts verleihen. Auch Aslan sieht aus, als habe er am Abend noch einiges vor. Er trägt Streetwear-Klamotten, das Bild des typischen Teenagers wird nur gebrochen von einer Ernsthaftigkeit, die sein Alter von 18 Jahren kaum glauben lässt.

Seit zwei Jahren ist Aslan schon hier in der schönen Stadt an der Newa. Aufgewachsen ist er in der Kleinstadt Beslan in Nordossetien, für ihn stand außer Frage, dass er dort sein Leben verbringen würde. Andere Wünsche hatte er nie, die Sache war alternativlos. Die Region ist arm, das Bildungssystem gilt als schlecht, und wer vom Kaukasus kommt, hat es im Nordwesten Russlands doppelt schwer, der Rassismus ist hier deutlich ausgeprägt. Aber dann kam der 1. September 2004.

Der Tag ist in Russland ein wichtiger Feiertag. Denn am „Tag des Wissens“ werden die Erstklässler eingeschult, und die Lehrer bekommen Blumen geschenkt. Alle Schüler und ihre Familien finden sich zu einer Feier auf dem Schulhof ein, die Männer im dunklen Anzug, die Frauen in ihrem besten Kleid.

In der Beslaner Mittelschule Nr. I beginnt die Zeremonie um 9.08 Uhr. Die Erstklässler stehen in zwei Reihen auf dem Hof. Die Tradition verlangt, dass der älteste Schüler die jüngste Schülerin auf seine Schultern hievt und sie für jeden sichtbar mit dem Glöckchen das neue Schuljahr einläutet. Alle warten gespannt auf diesen Moment. Da knallt ein Schuss. Der erste panische Schrei ertönt, als etwa dreißig Männer in Tarnuniformen auf den Hof stürmen, alle mit schwarzen Wollmützen maskiert. Sie schießen mit Maschinenpistolen in die Luft, brüllen Befehle, treiben die Festgesellschaft wie eine Herde in die Turnhalle. Geiseln werden als lebende Schutzschilde vor die Fenster gestellt, vor dem Ausgang platziert sich eine „schwarze Witwe“, eine Frau mit einem Sprengstoffgürtel um die Hüfte.

Gegen 10 Uhr erschießen die Geiselnehmer den Familienvater Soslan Betrosow, 40 Jahre alt, vor den Augen seiner Söhne. Am Abend werden es bereits acht Tote sein, „damit die Regierung sieht, dass wir es ernst meinen“. Zweifel daran hat zu diesem Zeitpunkt ohnehin niemand mehr. Drei Tage lang bleiben die Gefangenen in der Turnhalle eingezwängt, die Bilder aus Beslan gehen um die Welt.

In der Halle ist die Luft irgendwann unerträglich, es ist heiß, Wasser bekommen selbst Säuglinge und Kleinkinder nicht. Irgendwann erfahren die Geiseln, dass ihre Peiniger Tschetschenen sind, die mit Moskau Verhandlungen über die Unabhängigkeit ihrer Republik erzwingen wollen. Der ganze Raum ist mit Sprengstoff verkabelt, der Geruch von Blut und Exkrementen hängt in der Luft.

Irgendwo in diesem Inferno war Aslan. Er hat seine Angst nicht gezeigt, sein kleiner Bruder brauchte ihn. Er hat den jüngeren Kindern Mut gemacht. Er hat ihnen geholfen, den eigenen Urin zu trinken. Doch über die eigenen Qualen spricht Aslan nicht. Er durfte überleben – 330 andere mussten sterben, 186 Kinder von ihnen waren Kinder. Die drei Tage von Beslan halten Aslans Gewissen in Geiselhaft. „Ich will niemals vergessen, was geschehen ist“, sagt er knapp. „Das bin ich den Toten schuldig.“

Seltsamerweise ist aus dieser Tragödie auch eine Chance für den Jungen erwachsen, die sich ihm sonst niemals geboten hätte. Denn Nordossetien hat mit der Stadtverwaltung von St. Petersburg ein Abkommen geschlossen, das den jugendlichen Opfern von Beslan Studium und Therapie fern der Heimat ermöglicht. Aslan ist einer der 61 Auserwählten. Die Engecon-Universität hat Sozialarbeiter und eine Psychologin eingestellt, finanziert vom Deutschen Roten Kreuz, damit die Jugendlichen in der Millionenstadt mit ihrem Trauma nicht ganz alleine sind. Vor Aslan liegt unvermutet eine Zukunft, doch der 17-Jährige sitzt auf dem Kunstledersofa im Büro der Psychologin Larissa Leonidowna und wünscht sich 4.000 Kilometer weg von hier. „Ich will hundertprozentig nach Hause zurück“, sagt er.

Wie ihm geht es den meisten hier. Auch Alana. In dem Internatszimmer, das die 19-Jährige mit zwei anderen Mädchen teilt, sind Plüschtiere drapiert. Alana versucht, den Raum zu ihrem Zuhause zu machen, obwohl auch für sie außer Frage steht, dass sie nach dem Studium nach Beslan zurückkehren will. „Ich vermisse meine Familie sehr“, sagt Alana und schiebt hinterher, sie sei ja von der Tragödie im September 2004 nicht so betroffen wie manch andere hier.

Als nicht so betroffen gilt in Beslan, wer den Tätern am ersten Tag der Geiselnahme unter Beschuss entfliehen konnte, wer keine nahen Angehörigen, sondern nur Freunde verloren hat. Alanas beste Freundin Karina ist damals im Kreuzfeuer getötet worden. Seit der 1. Klasse haben die beiden nebeneinander gesessen. Jetzt ist Alana in St. Petersburg, und Karina ist tot. Die 19-Jährige spielt mit ihrer linken Hand an dem Kreuz, das an einer Kette im Ausschnitt ihrer Trainingsjacke hängt. Jeden Tag denkt sie an Karina. Jeden Tag.

Alana studiert Jura. Vor Semesterbeginn war sie zu Hause in Beslan. Dort hat sogar der Blick aus dem Küchenfenster an das erinnert, was passiert ist. Früher, sagt Alana, haben bei ihnen im Hinterhof Kinder gespielt. Heute ist er leer. „Wie ausgestorben“, sagt sie und zuckt kurz zusammen, erschrocken über die eigenen Worte. Noch heute sieht sie die Gesichter der Nachbarskinder vor sich. Beslan ist eine Kleinstadt, jeder kennt jeden, und jeder kennt jemanden, der in der Schule Nr. I gestorben ist.

Obwohl auf ihrer Heimatstadt dieses Trauma lastet, wollen die meisten Studenten zurück. Dort sind die Familien, die Freunde. Dort sind auch Erinnerungen – aber die warten ja nicht in Beslan, die sind immer da. Die Bilder verfolgen die Mädchen und Jungen auch hier in St. Petersburg. An die Tragödie, sagt Alana, erinnert sie sich hier wie dort. Kürzlich erst, ihre Mutter Ludmilla war gerade zu Besuch gekommen, knallte nachts hinter dem Studentenwohnheim ein Schuss. Die beiden Frauen schossen in blanker Panik aus dem Schlaf. Es hat lange gedauert, bis Alana ihre Mutter beruhigt hatte. Sie selber hat schließlich auch gezittert, am ganzen Leib.

Mit dem Erlebten zurechtzukommen ist eine Bürde, die nur wenige Jugendliche tragen können. Viele sprechen nie über das Erlebte, „aber eines Tages“, sagt Larissa Leonidowna, die Psychologin, „bricht es aus ihnen heraus.“ Leonidowna ist eine ernste Frau, nicht die gemütliche Herbergsmutter, der man sich auch mit kleinen Sorgen jederzeit anvertrauen würde. Wer in ihre Sprechstunde kommt, muss sich eingestanden haben, ein ernstes Problem zu haben, das fällt nicht allen leicht. Bei anderen Erwachsenen, etwa an der Uni, finden die Mädchen und Jungen aus Beslan kaum ein offenes Ohr. In St. Petersburg gelten sie als Kinder aus dem rückständigen Kaukasus, die von Glück reden können, hier studieren zu dürfen.

Auch Michail Subkow, der an der Engecon-Uni für die Beslaner zuständig ist, zeigt nur sehr verhalten Verständnis für deren innere Nöte. Heimweh? „Ach was, antwortet er, „in Russland geht man mit 16 Jahren zum Militär.“ Die meisten Studenten aus Beslan seien sehr zurückhaltend, erzählt Psychologin Leonidowna, „sie benehmen sich wie Erwachsene“. Neulich aber hat sie mit der ganzen Gruppe einen Ausflug gemacht. Da hat sie gesehen, wie die Mädchen und Jungen geflirtet haben. „Ich habe mich sehr darüber gefreut“, sagt Leonidowna. Sie seufzt, als würde sie die Erleichterung über diese Beobachtung noch einmal spüren.

Viele Eltern lassen ihre Söhne und Töchter nach dem gemeinsam Erlittenen nur schweren Herzens gehen. Doch sie reißen sich zusammen, schließlich werden ihre Kinder solch eine Chance wie St. Petersburg nicht noch einmal bekommen. Ludmilla, die Mutter von Alana, hat sich die Zugreise zu ihrer Tochter zusammengespart. Immer wieder streichelt sie ihrer Großen übers Knie, während sie Arm in Arm nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Die zarte 40-Jährige hat die Tochter und den jüngeren Sohn alleine großgezogen. Lange hat sie in einer Fabrik gearbeitet, die hat aber dichtgemacht. Nun lebt die ganze Familie von der Rente der Oma. Dass Alana studieren darf, ist nicht nur für Ludmilla, sondern für alle ein Hoffnungsschimmer. Die Mutter weiß, dass ihre Tochter immer noch von ihren Erinnerungen getrieben wird und dass sie sich sehr einsam fühlt in der fremden Stadt. Ihrem schlechten Gewissen, sie trotzdem zum Studium in der Ferne ermutigt zu haben, setzt sie entgegen, wie das Leben ihrer Tochter sonst wohl verlaufen wäre: Beslan lebt von der Alkoholproduktion, sieben Werke gibt es in der Stadt. Dort hätte Alana zwar sicher einen Job gefunden, „aber das ist doch keine Zukunft, oder?“

Wie genau die Geiselnahme in Beslan zu Ende ging, wurde niemals aufgeklärt. Die russische Regierung behauptet, die Terroristen hätten eine Bombe gezündet, daraufhin hätten Sicherheitskräfte die Halle gestürmt. Angehörige der Opfer haben ausgesagt, Soldaten hätten das Feuer eröffnet, obwohl die Geiseln noch in der Turnhalle waren. Aslan erinnert sich daran, dass das Dach plötzlich einstürzte, dass er rausrannte, in Sicherheit war und dann doch wieder zurücklief, um den kleinen Bruder und andere Kinder aus dem Kugelhagel zu zerren. Innerhalb der Beslan-Gruppe, erzählt Engecon-Koordinator Michail Subkow, gelte Aslan als Held, er sei er eine Stütze für jeden, der eine braucht. Und er selbst? Zur Psychologin gehe er nicht, sagt Aslan. „Die will, dass ich vergesse. Und das will ich nicht.“