Das Gespenst des Islamismus

Trotz aller Rhetorik: Der Westen hat Angst vor mehr Demokratie in der arabischen Welt. Er fürchtet, radikale Islamisten könnten dann durch freie Wahlen an die Macht kommen

Arabische Regimes malen die „islamische Gefahr“ an die Wand, um den Westen hinter sich zu bringenZur Demokratie gibt es keine Alternative. Der Terrorismus ist ein Produkt der autoritären Regimes

In der arabischen Welt wird derzeit heftig um eine Reform der überkommenen politischen Systeme gerungen. Von Marokko, Algerien und Tunesien über Ägypten, Syrien und Jordanien bis zu Saudi-Arabien versuchen die herrschenden autoritären Regimes dabei, die Angst vor den islamistischen Bewegung in ihren Ländern zu schüren. Dies dient ihnen als Vorwand, um den Ruf nach mehr Demokratie zu unterdrücken und den Status quo zu bewahren.

Indem sie das Schreckgespenst einer islamistischen Machtergreifung an die Wand malen, versuchen sie, die Mittelschichten in ihren Ländern auf ihre Seite zu bringen. Sie stellen die islamistischen Bewegungen als eine Bedrohung dar, von der die Mittelschichten eine weitere Einschränkung ihrer ohnehin schon begrenzten persönlichen und religiösen Freiheiten zu befürchten haben. Begleitet wird diese Angstkampagne von Repression und gezielter Gewalt durch die Regimes. So soll die Mittelschicht verängstigt und damit verhindert werden, dass diese eine Opposition bildet, die auf lange Sicht die Machtverhältnisse umstürzen könnte.

Auf diese Weise versuchen die herrschenden Regimes in der arabischen Welt, ihre eigene Machtposition zu festigen und ihr zudem Legitimität zu verleihen. Diese autoritären Regimes haben es gar nicht mehr nötig zu behaupten, sie regierten mit dem Mandat der Bevölkerung. Schließlich können sie sich darauf berufen, die islamische Gefahr gefährde die Stabilität im Lande und könnte es gar in Krieg oder Chaos stürzen.

Auch die tonangebenden Kreise und die politischen Strategen der westlichen Industrieländer bauen auf diese Argumentation. Ungeachtet ihrer Rhetorik von ihrem Willen zur „Demokratisierung der arabischen Welt“ fürchten sie, massiver Druck auf die diktatorischen Regimes könnte deren Stabilität gefährden und einer Machtergreifung extremistischer, radikalislamischer und antiwestlicher Bewegungen Tür und Tor öffnen.

Obwohl US-Präsident George W. Bush die Fehler einer amerikanischen Politik eingeräumt hat, die 60 Jahre lang nur die autoritären Regimes in der Region unterstützt hat, und sich öffentlich für demokratische Veränderungen ausgesprochen hat, fürchten die politischen Vordenker in den USA und Europa immer noch, dass sich jede ernsthafte Öffnung auf jeden Fall zugunsten der islamischen Bewegungen auswirken würde. Aus diesem Grund vertrauen sie lieber weiterhin auf die Zusammenarbeit mit den aktuellen autoritären Regimes. Sie hoffen, diese mögen sich so weit als möglich selbst reformieren, statt auf die demokratische Option zu setzen, für deren Erfolg es schließlich keine Garantie gibt.

Aus diesem Grund hat sich die Haltung des Westens hinsichtlich der Demokratisierung der arabischen Welt nicht wirklich geändert, und sie wird es auch in absehbarer Zeit nicht tun. Das aber bedeutet nichts anderes als die widerwillige, aber dennoch fortdauernde Unterstützung jener Regimes, die unter der Bevölkerung in ihren Ländern längst jede Glaubwürdigkeit verloren haben. Langfristig ist diese Haltung eine Gefahr für den westlichen Einfluss in der Region. Außerdem basiert sie auf der unausgesprochenen Grundüberzeugung, dass die arabischen Völker der Region noch nicht reif für die Demokratie seien.

Dass die arabischen Völker vom Recht auf freie Selbstbestimmung ausgeschlossen werden, war seit dem vorigen Jahrhundert ununterbrochen die Regel. Fremde Besatzung oder aufgezwungene Protektorate, so genannte „Mandate“ oder die Unterstellung der gesamten Region unter eine Art internationale, von einer oder mehreren Mächten geführte Aufsicht haben in der arabischen Welt eine lange Tradition. Sie stoßen auch heute weder im Westen noch in der arabischen Welt auf ernsthaften Widerstand, und sie werfen offenbar auch keine großen politischen oder moralischen Fragen auf. Das zeugt von einer tief verwurzelten Haltung, nach der die arabischen Völker nicht fähig seien, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Ein Weg aus diesem Dilemma kann nur gefunden werden, wenn man sich der Frage stellt: Droht der Region aus jeder Reform in Richtung Demokratie eine wirkliche islamistische Gefahr? Muss jede Öffnung der arabischen Länder dort unweigerlich zu einem islamistischen Regime führen? Oder ist auch ein Übergang zur Demokratie vorstellbar, der nicht in die Machtergreifung radikal-islamischer Bewegungen mündet, die sich noch brutaler gebärden als die bisherigen, pseudo-säkularen Gewaltherrscher?

Es ist nicht zu leugnen, dass die außergewöhnliche Brutalität des islamistischen Terrors den Westen dazu bewogen hat, die despotischen Regimes in der arabischen Welt weiter zu stützen. Und zweifellos gibt es extreme islamische Bewegungen, die tatsächlich in der Lage wären, eine demokratische Regierung zu stürzen. Aber es muss auch klar gesagt werden, dass gerade die jahrzehntelange Vorherrschaft der jetzigen Eliten ein Grund dafür ist, dass viele Angehörige der unterdrückten und marginalisierten Mittelklasse mit den islamischen Bewegungen in ihren Ländern sympathisieren.

Man kann die radikalislamischen Bewegungen nur als Produkt der despotischen und autoritären Regimes in der arabischen Welt verstehen. Große Teile der Öffentlichkeit haben es dort längst aufgegeben, sich zu artikulieren und darauf zu hoffen, ihre Interessen auf friedlichem Wege durchzusetzen. Aber es spricht nichts dagegen, dass sie unter veränderten politischen Bedingungen, wenn dem Monopol der derzeit Herrschenden Grenzen gesetzt werden, wieder von ihren Sympathien für die radikalislamischen Bewegungen abrücken.

Der islamistische Terror hat die USA und ihre westlichen Verbündeten zweifellos dazu bewegt, die diktatorischen Regimes in der arabischen Region zu unterstützen. Aber genauso richtig ist, dass sich die Aggression der radikalislamischen Bewegungen gegen den Westen vor allem auf dessen Einmischung in der Region zurückführen lässt, welche die Rechte, die Souveränität und die Unabhängigkeit der Völker der Region missachtet.

Die herrschenden Regimes in der arabischen Welt benutzen das Gespenst des Islamismus, um weiter an der Macht bleiben und die Verantwortung für die katastrophale Lage in ihren Ländern auf andere schieben zu können. Aber auch die westlichen Regierungen verwenden dieses Gespenst, um von ihrer eigenen Verantwortung für die Aggression, das Chaos und den Krieg in der Region abzulenken.

Die Demokratisierung der Region bietet die einzige Möglichkeit, die Wurzeln der Gewalt nicht nur zwischen der arabischen Welt und dem Westen, sondern auch innerhalb der arabischen Gesellschaften selbst anzugehen. Umgekehrt wird jede Verhinderung eines demokratischen Wandels aus Angst vor einer fundamentalistischen Machtergreifung nur zu noch mehr Krieg und Gewalt führen. BURHAN GHALIOUN

Übersetzung aus dem Arabischen: Mohsen Ben Mhamed