„Wir Dissidenten waren uns sehr ähnlich“

Nach zäher Debatte erhält Wolf Biermann heute die Ehrenbürgerschaft Berlins. Völlig verdient, meint Schriftsteller Günter Wallraff, der mit Biermann nach seiner Ausbürgerung eine WG teilte. Warum erihn schätzt – trotz konträrer politischer Ansichten

INTERVIEW LUTZ DEBUS

taz: Herr Wallraff, Wolf Biermann wird jetzt doch Ehrenbürger Berlins. Freut Sie das?

Günter Wallraff: Ehre, wem Ehre gebührt. Das ist doch längst zu einer Bringschuld geworden. Wolf wollte bald nach der Wende in seine Wohnung in die Chausseestraße zurückkehren. Ausgerechnet ein Funktionär der PDS hatte diese gemietet und war auch zu einem Tausch partout nicht bereit. Er empfand damals, dass man ihn aus Berlin rausgeekelt hat. Das ist ihm nahe gegangen. Wenn Wolf wieder mitten drin gewesen wäre im Osten, hätte er sich da wahrscheinlich auch stärker eingemischt.

Es gab politische Einwände gegen eine Ehrenbürgerschaft. Haben Sie dafür Verständnis?

Man kann zu seiner jetzigen politischen Haltung stehen, wie man will. Ich hab ganz andere Ansichten. Aber selbst da, wo er seinen bellizistischen Standpunkt vertritt, vielleicht auch aus Trotz gegen die offizielle Meinung, beschädigt dies nicht sein eigentliches Werk. Das hatte seine Wirkung und einzigartige Bedeutung zu einer bestimmten Zeit.

Sie haben Biermann 1976 mit einem Tagesvisum in Berlin besucht. Hat der DDR-Bürger Biermann Sie beeinflusst?

Ich konnte mich in seine Position einfühlen, konnte mich identifizieren. Mit anderen Mitteln, in einem anderen System hatte ich ja eine ähnliche Funktion. Die Dissidenten hier wie dort waren sich sehr ähnlich. Viele, die sich hier gegen einen gesellschaftlichen Mainstream stemmten, wären aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur auch in der DDR Dissidenten geworden. Genau wie bei den Herrschenden. So eine Person wie Franz Josef Strauß hat sich mit Erich Honecker bestens verstanden, und auch Honecker hat nach der Wende noch mit großem Respekt von seinen Treffen mit Strauß berichtet. Autoritäre Charaktere sind sich sehr ähnlich, in allen Regimen der Welt.

Wie kam es zu seinem Besuch bei Ihnen in Köln, als er ein Visum für eine West-Tournee erhalten hatte?

Als er von seiner Ausbürgerung erfuhr, rief er mich an und sagte: „Hast du Platz? Kann ich bei dir wohnen?“ Es war das reinste Chaos. Meine Frau war gerade ausgezogen. Mein normales Leben, was natürlich nie ein normales Leben war, fand hier also nicht statt. Hier ballte sich alles. Es wurde zu einer Drehscheibe.

War er denn ein ordentlicher WG-Genosse?

Ich bin selbst nicht besonders ordentlich. Ich glaube, wir haben das Chaos noch vergrößert. Aber es war eine Zeit, die ich nicht missen möchte. Wolf hatte beim Schach leichte Vorteile, dafür schlug ich ihn im Tischtennis.

Und die Frauen haben Ihren Dreck weggemacht?

Im Gegenteil. Meine damalige Freundin sagte plötzlich, als er einzog: „Er oder ich!“ Das war politisch motiviert. Sie war Spartakistin. Obwohl ich sie liebte, sagte ich ihr: „Tut mir Leid. Ich bin nicht erpressbar.“ Dann zog sie erst mal aus, kam aber später zurück.

Biermann hatte doch auch weibliche Begleitung dabei?

Erst mal nicht. Es gab die zusätzliche Gehässigkeit der DDR-Führung, dass sie ihm dann all seine Frauen fast gleichzeitig hinterherschickten, für die er sich selbstverständlich alle verantwortlich fühlte. In der DDR waren die Frauen ja noch räumlich und familiär verteilt. Die Tine, die Bille, die Eva-Maria, alle kamen rüber. Nina Hagen, die Tochter von Eva-Maria, galt damals noch als die „sächsische Nachtigall“. Sie wohnte dann hier im Anbau.

War so viel Trubel nicht zu viel für den Schriftsteller Wallraff?

Ich habe es immer als Aufgabe angesehen, jemanden aufzunehmen, der verfemt oder verfolgt wird. So hat auch ein paar Mal Salman Rushdie hier versteckt gelebt. Und lange Zeit ein kurdischer Schriftsteller, der von der PKK mit dem Tode bedroht wurde.

Biermann bezeichnete seinen Weg von Ost nach West als einen „vom Regen in die Jauche“. Warum?

Da hatte er noch Illusionen, dass sich der so abschreckend praktizierte Sozialismus langfristig zu einer menschlicheren Gesellschaft hin entwickeln würde. Einiges kam ihm in seinem neuen Exil auch bald wieder sehr vertraut vor: Als er hier einzog, wurden wir von einem Trupp Bild-Zeitungs-Reportern rund um die Uhr belagert. Dann kam heraus, dass Bild mit Hilfe des BND hier eine hochkomplizierte Parallelschaltung installiert hatte. Jedes Telefongespräch wurde in der Bild-Redaktion mitgehört. Die Nutznießer wurden Jahre später vor Gericht gestellt und verurteilt. Die Hintermänner vom BND wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, betreiben ihr Handwerk wahrscheinlich bis heute weiter. Hier vor der Tür bot mir der damalige Bild-Redakteur Jürgen Kleikamp, jetzt zuständig beim WDR-Fernsehen für die Lokalberichterstattung, einen Deal an: „Wenn Sie mir ein Exklusivinterview mit Biermann beschaffen, sage ich Ihnen, wo der BND die Wanzen bei Ihnen versteckt hat.“

Änderte sich etwas in Ihrem Leben durch die Ausbürgerung Biermanns nach Köln?

Meine Bücher wurden zuvor in der DDR in hoher Auflage verlegt, sicher auch mit der Absicht, sie propagandistisch zu nutzen. Nach der Ausbürgerung von Wolf wurde ich dort Unperson. Das war mir sehr recht. Damals gab es diesen Gradmesser: Sage mir, wie du zur Ausbürgerung von Biermann stehst, und ich sage dir, ob du einen demokratischen, menschlichen Sozialismus anstrebst. Ich wurde nach 1976 nicht mehr verlegt. Erst als in der Gorbatschow-Ära „Ganz unten“ auf Russisch erschien, das war 1986/87, zog die DDR nach und lud mich zu einer Lesereise ein.

Haben Sie Biermanns Ausbürgerung thematisiert?

Ja, um nicht missverstanden zu werden. In allen fünf Städten habe ich den Zuschauern gesagt, dass ich die Zeit kommen sehe, in der eine Biermann-Straße auf einen Gorbatschow-Platz mündet, was ja alsbald, allerdings unter anderen Konstellationen und jenseits meines damaligen Vorstellungsvermögens, eintreffen wird. Im Saal gab’s übrigens immer riesigen Beifall. Nur in den ersten Reihen, wo die Funktionäre saßen, war eisiges Schweigen.

Heute schreibt Biermann auch für den Springer-Verlag. Ärgert Sie das?

Als er mit dem unsäglichen Titel „Chefkulturkorrespondent der Welt“ besudelt wurde, hab ich ihn gefragt: „Wolf, lässt du dir das gefallen?“ Das war ihm selber peinlich. Alle fielen über ihn her. Er hätte sich an Springer verkauft. Dann schrieb er für die Welt eine Kolumne, in der er die Mitschuld der Bild an dem Tod von Rudi Dutschke thematisierte. Auch das Gedicht „Drei Kugeln auf Rudi Dutschke“ war darin enthalten. Da gab es, das weiß ich, im Hause Springer eine kleine Palastrevolution. Er hatte denen gesagt, entweder ihr druckt den Text oder ich gehe. Der Beitrag wurde veröffentlicht.

Können Sie seine Gleichsetzung der Linkspartei mit der SED nachvollziehen?

Wolf hat wohl allen Grund, das überpointiert und kritisch zu sehen. Ich trenne zwischen den Altvorderen, die sich langsam verabschieden, und der jüngeren Generation, die das hinter sich gelassen hat. Die Linkspartei ist für mich nicht wählbar, trotz Oskar Lafontaine, den ich schätze.

Den Kolumnisten der Bild -Zeitung?

Auch da differenziere ich. Gerhard Schröder hat sich Springer bis ins Privatleben hingegeben. Lafontaine hat seine Meinung, zwar in Schlichtform, aber doch seine eigene unbequeme politische Meinung, einem breiten Publikum zugänglich gemacht.

Er vertrat auch seine Meinung, als er gegen Fremdarbeiter polemisierte.

Das habe ich auch nicht nachvollziehen können. Ich sah das als einen demagogisch-populistischen Ausrutscher, weil seine sonstige Haltung eine andere ist.

Das Springer-Hochhaus in Berlin steht nun an der Rudi-Dutschke-Straße. Empfinden Sie Schadenfreude?

Nicht Schadenfreude, Genugtuung. Das hat seine historische Berechtigung. Nicht nur Dutschke hat es verdient, sondern die ganze Richtung der 68er, die er repräsentiert.

Ein Stückchen der Kochstraße könnte doch auch Wallraffstraße heißen?

Es gibt in Köln schon einen Wallrafplatz. Zwar nur mit einem f, aber das reicht. Nein, im Ernst, ich fühle mich wohler, wenn ich unsichtbar bin.

Sie wollen nicht Ehrenbürger von Köln werden?

Fragen Sie mich in 30 Jahren noch mal danach.