„Es ist der blanke Zynismus“

Es beginnt mit unterqualifizierten, überforderten Aushilfslehrkräften – und endet mit Frust und Handgreiflichkeiten. „Hier wird die Pädagogik abgeschafft“, sagt der Fachmann

taz: Herr Nagel, als „Schule für alle“ will die hessische Landesregierung die „Unterrichtsgarantie Plus“ verkaufen. Ist es nicht eher „Schule von allen“?

Jochen Nagel: Es ist nicht mehr als der Versuch, die billigste aller Lösungen zu fahren. Und im Supermarkt erzählt dann die Mutter einer Schülerin stolz, sie sei nun auch Lehrerin. Das war jetzt keine Polemik, sondern ein Beispiel, das sich genau so ereignet hat.

Womit eines der klassischen Ressentiments gegen die Lehrer bedient wäre: Deren Job kann ja jeder machen.

Natürlich. Das ist ein Angriff auf die Profession und das Bewusstsein eines Berufsstandes. Da sind die konservativen Berufsverbände mit ihrem ausgeprägten Standesdünkel im Übrigen absolut einer Meinung mit der GEW. Die Lehrer und Lehrerinnen selbst haben zu großen Teilen einfach nur resigniert. Hier geht es ja nicht mehr um den Konflikt unterschiedlicher pädagogischer Konzepte. Hier wird die Pädagogik schlichtweg abgeschafft.

Was aber ohnehin nur Vertretungsstunden beträfe, die ansonsten eben ausfallen müssten – so lautet das Argument des Kultusministeriums.

Selbst für ausgebildete Pädagogen gibt es doch keine schwierigere Aufgabe, als einen qualifizierten Vertretungsunterricht zu machen und sich ad hoc auf ein neues Thema und eine neue Gruppe einzulassen. Diesen Job gänzlich Unqualifizierten zu übertragen, bedeutet eine absolute Entwertung des Begriffs „Unterricht“. Es ist der blanke Zynismus.

Welche pädagogischen Kenntnisse bekommen diese Aushilfskräfte denn mit auf den Weg?

Es gibt ein Vorstellungsgespräch bei der jeweiligen Schulleitung – und das war es im Großen und Ganzen auch schon. Ein polizeiliches Führungszeugnis muss zum Beispiel niemand vorlegen. Jeder Jugendgruppenleiter wird wahrscheinlich ausgiebiger geprüft. Schon jetzt ist zu erkennen, dass Menschen, die schon immer etwas Missionarisches im Kopf hatten, in die Schulen drängen. Wir reden hier nicht automatisch von Neonazis oder Ähnlichem. Aber doch von Einflüssen, die Schülerinnen und Schülern nicht guttun oder die sie zumindest nur schwer einordnen können.

Und die sie letztlich auch an der Institution Schule selbst zweifeln lassen könnten?

Genau das ist der Punkt: Diese jungen Menschen erfahren, dass sie von der Schule nicht ernst genommen werden. Wie kann man dann umgekehrt von ihnen noch den ernsthaften Umgang mit der Schule erwarten. Der größte Protest gegen die sogenannte Unterrichtsgarantie kommt aus den Reihen der Schülerinnen und Schüler selbst, bis hin zu einem Schülerstreik, wie er an der Frankfurter Helmholtzschule im vergangenen Dezember stattgefunden hat. Wenn die Politik darauf nicht reagiert, wird das Engagement der Schüler irgendwann in Frustration umschlagen.

Wie sehen sie denn konkret aus, die frustrierenden Umstände?

Das beginnt mit der jungen Frau, die in einem Gymnasium Französischunterricht geben soll. Nur dass sie wegen ihres starken russischen Akzents von niemandem verstanden wird. Und es endet tatsächlich mit Handgreiflichkeiten, mit Ohrfeigen und verbalen Beleidigungen. Eine überforderte Aushilfskraft ist mitten in der Stunde zum Schulleiter gelaufen, um den Bettel hinzuschmeißen – und hat währenddessen die Schüler im Klassenraum eingeschlossen.

Interview: Clemens Niedenthal