Echt krass, so ein Krieg

Das Gefühl von Verlorenheit lässt in Andrea Štakas Spielfilm „Das Fräulein“ zwei Immigrantinnen Verantwortung füreinander übernehmen

Während sich die 50-jährige Ruža (Mirjana Karanović) mit grimmiger Entschlossenheit für einen langen Arbeitstag als Inhaberin einer Kantine fertig macht, kifft die 22-jährige Ana (Marija Škaričić mit ein paar Punks, die sie kurz zuvor auf der Straße kennen gelernt hat – trotzdem verbindet doch einiges die zwei Frauen miteinander. Das zeigt sich bald schon bei Andrea Štakas Film „Das Fräulein“. Denn sowohl die Serbin Ruža als auch die Bosnierin Ana leiden unter extremer Einsamkeit, seit sie, jede für sich, ihre Heimat im ehemaligen Jugoslawien verlassen haben und nach Zürich gekommen sind – in eine Stadt, die in diesem Film meist grau ist und immer beklemmend wirkt.

Als Ana zufällig in Ružas Kantine zu Mittag isst und spontan für eine verletzte Bedienung einspringt, wird ihr von Ruža ein Job angeboten, den sie nach anfänglichem Zögern annimmt. Das Restaurant ist ein Treffpunkt für Immigranten aus dem Balkan, die hier ein Leben simulieren, wie sie es aus ihrer Heimat kennen. Und gerade dadurch, dass die beiden Frauen auf diese Weise täglich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert werden, wird ihnen ihr Fremdsein in der Schweiz umso schmerzlicher bewusst.

Denn obwohl Ruža schon seit Jahrzehnten in Zürich lebt, ist sie dort nie wirklich angekommen. Ihre Erinnerungen – Fotos und Briefe, die von einem glücklicheren Leben in Serbien zeugen –, sind tief in einer Kiste in ihrem Schlafzimmer vergraben. Ruža hat sich abgehärtet gegen den Schmerz der Einsamkeit, sagt über sich: „Heute brauche ich niemanden mehr – ich habe es geschafft“, und merkt dabei gar nicht, wie verbittert das klingt. Zwar ist Ana lebensfroh und extrovertiert, aber auch ihr fällt es schwer, mit ihren Altersgenossen in Zürich zu kommunizieren. Als sie einem jungen Mann während eines Discoflirts vom Selbstmord ihres Bruders erzählt, ergreift der die Flucht. Während eines Gesprächs über den Bosnienkrieg, in dem Ana ihre Eltern verloren hat, sagt ihre Gesprächspartnerin: „Is scho krass, so a Krieg.“

Das Gefühl von Verlorenheit verbindet die beiden Frauen, lässt sie Verantwortung füreinander übernehmen, und es ist ausgerechnet die todkranke Ana, die Ruža schließlich zurück ins Leben holt. Mirjana Karanović hat ihre Figur Ruža dabei mit der richtigen Mischung aus Schroffheit und Verletzlichkeit ausgestattet, die im Zusammenspiel mit Marija Škaričić’ Überdrehtheit als Ana der Freundschaft eine bemerkenswerte Plastizität verleiht. Das alles ist von Kameramann Igor Martinović in immer wieder entrückt schönen Bildern festgehalten worden, etwa wenn die beiden Frauen während eines Ausflugs in die Berge in unbeschwerter Ausgelassenheit durch den Schnee toben und man beinahe körperlich spürt, wie alle Sorgen für einen Augenblick von ihnen abfallen.

Dennoch kann „Das Fräulein“ nicht vollends überzeugen, was damit zusammenhängt, dass Ružas rasante Veränderung nach Jahrzehnten der Einigelung zum Teil etwas klischeehaft umgesetzt worden ist – wenn sie sich beispielsweise auf ihrer Geburtstagsparty zu serbischer Volksmusik in Ekstase tanzt. Da ist die Figur der Ana in ihrem unverrückbaren Starrsinn irgendwie überzeugender. ANDREAS RESCH

„Das Fräulein“. Regie: Andrea Štaka. Mit Mirjana Karanović, Marija Škaričić u. a. Schweiz/Deutschland, 81 Min.