Verdammt nah dran

Zukunftsangst haben nicht nur sozial Prekarisierte, sondern auch Schauspielschüler: In der Inszenierung von Lars Noréns „Personenkreis 3.1“ zeigen elf Studenten der Schauspielschule „Ernst Busch“, dass sie die Bodenhaftung nicht verloren haben

VON WIEBKE POROMBKA

Manchmal kommt Theater verdammt nah ans Leben ran. So nah wie an diesem Vormittag an die Schüler einer Neuköllner Hauptschule, die sich schüchtern und in gepufften Winterjacken durch die Zuschauerreihen des bat-Studiotheaters schieben. Der Abschlussjahrgang der Schauspielschule „Ernst Busch“ hat sie zu einer der Proben von Lars Noréns Underdog-Drama „Personenkreis 3.1“ in die kleine Spielstätte in Prenzlauer Berg geladen. „Mittelklassekinder spielen Unterschicht“ haben die Schauspielstudenten als Motto der Inszenierung ausgegeben. Ganz sicher scheint hier gerade niemand zu sein, ob dieses Motto auch mit dem ungewöhnlichen Besuch zu tun hat.

Zum Glück muss man darüber aber nur so lange nachdenken, wie der in Schauspielschulkreisen scheinbar noch immer obligatorische Dehn- und Lockerungsreigen auf der nur von Bänken gesäumten Spielfläche dauert. In den folgenden zwei Stunden, auf die Regisseur Peter Kleinert Noréns Mammutwerk eingedampft hat, tut man in allererster Linie eins: Man hört zu, was die Figuren über das Leben am unteren Rand der Gesellschaft erzählen.

„Personenkreis 3.1“ – das ist die offizielle Bezeichnung der schwedischen Behörden für Drogensüchtige, Prostituierte, Arbeitslose und überhaupt all jene, die durch das soziale Raster gerutscht sind. Es sind Verlustgeschichten, die hier erzählt werden. Wie die vom wegrationalisierten Arbeiter, die man so oft seit der Wende gehört hat. Nur an den beständig gekrümmten Schultern sieht man, dass sich hinter der brutalen Wut des Arbeitslosen (Christian Ehrich) eigentlich verzweifelte Kraftlosigkeit verbirgt. Oder die Geschichte des jungen Mannes, dem der Alkohol nicht nur die Feinmotorik, sondern auch das Sorgerecht für sein Kind genommen hat. Wenn Stefan Stern ihn mit flirrenden Gesten eine Spur zu laut und zu euphorisiert von den seltenen Telefonaten mit seinem Sohn erzählen lässt, ist das eindringlicher als irgendeiner von den Unterschichts-Doku-Filmen, die allabendlich das Fernsehen inflationieren.

Vielleicht funktioniert die Inszenierung, die nur aus lose miteinander verbundenen Szenen besteht, deshalb so gut, weil Regisseur Kleinert das Giftschränkchen theatraler Effekte fast vollständig unter Verschluss gehalten hat. Kleinert, der seit zwanzig Jahren als Dozent für Regie an der Schauspielschule arbeitet, ist Profi genug, um in erster Linie seinen Studenten die Gelegenheit zu geben, ihr Können zu demonstrieren.

Dass sie in den drei Jahren ihres Studiums nicht nur eine exzellente handwerkliche Ausbildung erhalten haben, zeigt der überraschende Verlauf der Aufführung. Norén analysiert in seinem Stück die Dynamik in einer Gruppe sozial Ausgestoßener, die aufeinander zurückgeworfen sind und sich gerade deshalb umso mehr gegeneinander abgrenzen. Auf der Bühne verkehrt sich das plötzlich zu einer Parabel über die Mechanismen in einer Gruppe von Schauspielstudenten, die kurz davor stehen, an die großen Häuser der Republik engagiert zu werden – oder eben auch nicht. Zu den kraftvollsten Momenten gehört, wenn Christine Papst dem Publikum den Frust über das System Schauspielschule und die Angst um die eigene Zukunft in einem exaltierten Monolog regelrecht vor die Füße kotzt. Wenn Papst sich dabei in ihrer Verhuschtheit verknotet, um gleich darauf wieder ihren zierlichen Körper kraftstrotzend vor den Zuhörern aufzubauen, dann sind diese Selbstzweifel allerdings nur schwer nachzuvollziehen.

Das findet übrigens auch das Expertenteam aus Neukölln, mit dem sich die Schauspieler später zum Gespräch treffen. So richtig vorstellen, dass Schauspielerei ein Beruf sein soll, kann es sich keiner der Achtklässler. Ansonsten sei der morgendliche Unterrichtsersatz aber echt cool gewesen, streckenweise jedenfalls. Und dann wird auch gleich feierlich der Gegenbesuch mit den Ernst-Buschlern verabredet – sie sollen Feldstudien in Neukölln betreiben.

Nächste Vorstellungen: 25.–27.1., 20 Uhr, bat-Studiotheater, Belforter Str. 15