arznei fürs volk ist tierquälerei von ULRIKE STÖHRING
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Frau G. aus Hamburg weilt in Berlin. Wie immer, wenn sich Besuch aus der Hansestadt ankündigt, wurden größere Mengen alkoholischer Getränke herbeigeschafft. Man will sich ja nicht blamieren. Die Trinkfreudigkeit von Frau G. orientiert sich an den Kaurismäki-Brüdern, und ich bin froh, dass in meinem Haushalt kein Mann und demzufolge auch kein Rasierwasser vorhanden ist. Abends fühlt Frau G. sich etwas vergrippt und schlägt zur Selbstmedikation ein Literfläschchen Grappa vor. Am Morgen danach sind wir beide eindeutig krank und erwägen sogar einen Arztbesuch.

Nun gehört Frau G. zum fortgeschrittenen Teil der Boheme und ist nicht mehr krankenversichert. Aus Angst vor einem mysteriösen Todesfall in meiner Küche mache ich den halbkriminellen Vorschlag, mit meiner Kassenkarte auszuhelfen. Dies trauen wir uns aber doch nicht und greifen stattdessen auf Johann Friedrich Osianders schönes Buch „Volksarzneymittel“ zurück. Das 1826 erstmalig erschienene Werk beschreibt laut Untertitel einfache, nichtpharmazeutische Heilmittel gegen Krankheiten des Menschen und darf, schon im Hinblick auf die Gesundheitsreform, in keinem Haushalt fehlen.

Ein bisschen robust sollte man allerdings schon sein, will man den Empfehlungen Folge leisten. Um so systematisch wie möglich vorzugehen, schlagen wir zunächst unter „Hypochondrie“ nach. Frau G. liest vor: „Besonders hat man der Ehe zu allen Zeiten viel Gutes in der Kur der Hypochondrie und Melancholie nachgesagt.“ Da nach unserer Erfahrung leider das Gegenteil wahr ist, suchen und finden wir einen Alternativvorschlag: „Gegen hypochondrische Beängstigungen und Todesfurcht leisten Klistiere von kaltem Wasser zuweilen gute Dienste.“ Vielleicht, weil die Furcht vor solcher Behandlung größer ist, als die vor dem Tod? Schließlich entdeckt Frau G. ein paar Seiten weiter das ultimative Geheimrezept, das neben Hypochondrie auch die Hysterie final beheben soll: „Kranke, die sich entschlossen haben, alle Morgen ein Glas Madeira zu trinken, sind andere Menschen geworden.“

Das entspricht leider durchaus meiner Beobachtung, weshalb ich Frau G. das Buch entwinde und das Kapitel mit der schönen Überschrift „Trunkfälligkeit“ zu referieren beginne. Missmut und Selbstmordgedanken werden dort der Einfachheit halber gleich mitverhandelt und den Betroffenen das Tabakrauchen zur Linderung ans Herz gelegt. „Abneigung gegen aktive Beschäftigungen“ müssten jedoch als Nebenwirkung in Betracht gezogen werden. Frau G. bestätigt diese These prompt, indem sie die Beine hochlegt und schweigend und rauchend weiter zuhört.

Als ich das Brühl-Cramer’sche Mittel gegen Trunksucht verlese, das in der Verabreichung verdünnter Schwefelsäure in Verbindung mit bitteren Substanzen besteht und „nach vierzehntägigem Gebrauch gewöhnlich Widerwillen gegen allen Branntwein“ hervorrufen soll, starrt sie gleichmütig vor sich hin. Erst das Rezept des Galenus empört sie zutiefst: „Um Säufern das Weintrinken zu entleiden, soll man einen lebendigen Aal in Wein ersticken und von diesem trinken lassen.“ Also wirklich. So eine Tierquälerei!