Das Weltkino und die Eventkultur

Ohne Fördergremien wie den Rotterdamer Hubert Bals Fund oder den Berliner World Cinema Fund könnten Autorenfilmer aus Thailand, Paraguay oder Kasachstan heute kaum mehr arbeiten. Aber welche Art von Film wird da gefördert? Und was bedeutet das für den Aufbau einer Filmindustrie im jeweiligen Land?

Das Festivalnetzwerk erzeugt jene filmischen Kulturwaren, die es anschließend als„World Cinema“ feiert

von SIMON ROTHÖHLER

In einem mittlerweile historischen Gespräch zwischen den Filmemachern Ousmane Sembène und Jean Rouch, das 1965 aufgezeichnet wurde, fällt der berühmte Satz: „Ihr seht uns an, als wären wir Insekten.“ Der Senegalese Sembène hat Rouchs „Moi, un Noir“ (1958) zwar geschätzt, den ethnografischen Film aber immer auch als hegemoniale Repräsentationspraxis verstanden, die in einem politisch-ökonomischen Fundament wurzelt, das die (nach-)kolonialen Asymmetrien mitformuliert und verstetigt. Bis heute ist Paris die „Hauptstadt“ des frankophonen afrikanischen Kinos – gestützt durch eine Förderlogik, die „Entwicklungshilfe“ nicht als Investition in den Aufbau einer prinzipiell autonomen lokalen Filmwirtschaft begreift, sondern als zentralistische Subvention für Autorenfilme, deren eigentliche Adressaten europäische Festivalbesucher sind.

Der mittlerweile 84 Jahre alte und immer noch aktive Sembène – „Moolaadé“ (2004) heißt sein jüngster Film – verkörpert geradezu idealtypisch die Grundhaltung der antikolonialen Dritte-Kino-Bewegung. Diese hatte im Südamerika der späten 1960er Jahre ihren Ausgang genommen, kam dann aber zwei Jahrzehnte später auch als Diskurszusammenhang aus der Mode. Ein für die nachfolgenden Verschiebungen im Weltkino exemplarischer Auteur ist der Kunst-Kino-Grenzgänger und derzeitige Festivalliebling Apichatpong Weerasethakul, der am Art Institute of Chicago studiert hat und filmisch vollkommen anders sozialisiert ist.

Weerasethakul nennt den amerikanischen Avantgardefilmer Bruce Baillie als Vorbild und wird selbst als Ikone des verschiedentlich ausgerufenen „New Thai Cinema“ gehandelt. Seine jüngste Arbeit „Syndromes and a Century“ (2006) ist jedoch, genau genommen, eine austro-niederländisch-französisch-britisch-thailändische Koproduktion. Ein Widerspruch? Ein Kategorienfehler? Im Kontext der transnationalen Festivalökonomie wohl eher: Business as usual, eine Selbstverständlichkeit.

Warum also die kleinteilige Frage nach dem Produktionshintergrund? Zumal nationalstaatlich orientierte Kategorienbildungen ohnehin im Verdacht stehen, anachronistisch zu sein. Und was hat das feinnervige Kino des Kosmopoliten Weerasethakul mit der brechtianischen Volkspädagogik Sembènes und dem von ihm angesprochenen Blickverhältnis zu tun?

Bei „Syndromes and a Century“ handelt es sich um eine für Weltkino-Produktionen typische Mischkalkulation: Der österreichische Anteil des Projekts ist dem US-amerikanischen Theatermacher Peter Sellars geschuldet, der im Rahmen des mit zehn Millionen Euro budgetierten Mozart-Festivals „New Crowned Hope 2006“ den ehemaligen Leiter der Rotterdamer Filmfestspiele Simon Field als Kurator verpflichtete. Field hatte sechs förderungswürdige Projekte auszuwählen und übermittelte seinem Vorgesetzten eine Cannes-kompatible State-of-the-Art-Kartografie des kontemporären Weltkinos. In Weerasethakuls bereits existierendes Projekt kaufte man sich ein – der programmatische Link zu Mozart war kein Hindernis, dafür gibt es ja die Rhetorik öffentlicher Kunstförderung: „Genau wie Mozart in der Musik“, so Field, „suchen auch diese FilmemacherInnen nach neuen Wegen, um die Welt zu beschreiben und neuartige Möglichkeiten für das Kino und unser Leben zu erforschen.“

Das Projekt wurde finanztechnisch und produktionslogistisch realisiert durch die in London ansässige Illumination Films (bei der Field nach 2004 tätig war), den ursprünglich niederländischen, global gut vernetzten Arthouse-Player Fortissimofilms (vertreten durch Wouter Barendrecht, der von Hongkong aus operiert und mit den Festivals von Rotterdam und Berlin verbunden ist), den beiden Pariser Firmen Backup Films und Anna Sanders Films und den thailändischen Unternehmen Tifa und Kick The Machine (die Weerasethakul 1999 mit Mitteln des Rotterdamer Hubert Bals Fund gegründet hat). Hinzu kamen Subventionsgelder des französischen Staates durch den Fonds Sud Cinéma, der seit 1984 existiert und institutionell zugleich beim Außen- und Kulturministerium angesiedelt ist. Als der Film fertig war, lief er im Wettbewerb von Venedig.

In der Produktionskonstellation von „Syndromes and a Century“ treffen sich geradezu paradigmatisch Elemente der zeitgenössischen Festivalwirtschaft, in deren Zirkulationsroutinen und Aufmerksamkeitsökonomie sich das „unabhängige“ Weltkino als solches überhaupt erst konstituiert. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser hat diesen Komplex untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass insbesondere die A-Festivals mittlerweile Praktiken der postfordistischen Hollywood-Studios und großer Event-Kunstausstellungen kombinieren – und dabei keineswegs „neutrale“ Karten des Weltkinos anlegen.

Die großen Festivals nutzen ihre Funktion als unhintergehbare „access points“ in die symbolische wie faktische Arthouse-Ökonomie, um Prozesse der vertikalen Integration in Gang zu setzen. Der Ehrgeiz, „neue Wellen“ nicht nur abzubilden, sondern zu initiieren, trifft sich hierbei mit der integrativen Dynamik: Festivals sind an der Produktion der von ihnen gezeigten und ausgezeichneten Filme beteiligt. Ihre Marktpolitik operiert dabei nach den Gesetzen der Eventkultur; Selektion und Branding greifen entsprechend ineinander. Das Emblem der Goldenen Palme fungiert heute als Qualitätssiegel, vergleichbar den historischen Studiologos oder dem Schriftzug der Tate-Modern-Galerie in London. Nationen-Labels sind in erster Linie optionale „selling points“, die das Genre „Festivalfilm“ intern ausdifferenzieren helfen.

Natürlich sind die innerhalb dieses Rahmens agierenden Fördergremien mit den Realitäten eines postkolonialen „Weltsystems“ (Immanuel Wallerstein) konfrontiert, dessen geopolitische Architektur in ganz anderen Räumen der Macht entworfen wird. Dennoch ist es seit den späten 1980er Jahren auffällig ruhig geworden um die mit einem Namen wie Teshome H. Gabriel verbundene Agenda einer Kritik der politischen Ökonomie des in Abhängigkeit gehaltenen „nichtwestlichen“, engagierten Kinos. Parallel zur Ausdifferenzierung eines ästhetisch wie politisch distinktionsbewussten Arthouse-Kinos, das weltweit nach frischer Ware, exotischen Schauplätzen und originären Lebensräumen Ausschau hält und dessen Taktgeber die großen Festivals sind, wurde der immer auch produktionsmittelbezogene Diskurs der Dritte-Kino-Bewegung endgültig eurozentrisch ausgeblendet.

Gerade der fröhliche Multikulturalismus des Festivalbetriebs und damit einhergehender Förderprogramme haben den Status quo nachhaltig festgeschrieben: „Third Cinema“ heißt heute „World Cinema“, ist in gewisser Weise dem vormals „zweiten“ (europäischen Autoren-)Kino einverleibt worden und dementsprechend von den Konjunkturen seiner Förderpraktiken abhängig. Von „indigener“ Filmproduktion – und vor allem: Filmdistribution – ist kaum noch die Rede. Das Festivalnetzwerk erzeugt in globalem Ausmaß genau jene filmischen Kulturwaren, die es anschließend als repräsentativ (zum Beispiel für eine „neue“ Nationalkinematografie wie diejenige Thailands) auswählt, vorführt, prämiert und mit Slogans wie „World Cinema statt Global Hollywood“ (Dieter Kosslick) in die Indie-Ökonomie seiner Auswertung einschleust.

Die Logik der dabei mitlaufenden Repräsentationszwänge spiegelt sich auch im institutionellen Design der Geberländer: Um Förderung beim World Cinema Fund der Berlinale zu erhalten, müssen Projekte nicht nur „ein authentisches Bild ihrer kulturellen Herkunft vermitteln“, wie es in den Richtlinien heißt, sondern auch gleich einen deutschen Koproduzenten an Bord nehmen. Dieser organisiert den europäischen Markteintritt und ist technisch gesehen der Fördernehmer. Die infrastrukturpolitische Dimension besteht in der Verpflichtung der deutschen Produktionsfirma, die Fördersumme in der „Region“ des Projektes auszugeben, um „zu einer Stärkung der dortigen Filmindustrie beizutragen“, wie Sonja Heinen vom World Cinema Fund sagt. Beim Hubert Bals Fund wird die Förderung gleich als Scouting-System und Zulieferbetrieb für niederländische Produktionsfirmen begriffen, denen der Eintritt in den Weltmarkt ermöglicht werden soll. Hinzu kommt ein offen kuratorisches Selbstverständnis samt Branding-Strategien. So fand 2003 im New Yorker MoMA eine Schau des Bals-Portfolios statt. Titel: „From distant shore: 15 years of the Hubert Bals Fund“.

Komplexe Filme wie „Syndromes and a Century“ sind natürlich weit davon entfernt, die Impulse europäischer Geldgeber zu kultureller Authentizität oder gar Selbstexotisierung der Lokalgeschichte in schlichte Ethno-Ästhetiken zu übersetzen. Die Ökonomie filmischer Zeichen ist zudem nicht durch Kapitalflüsse determinierbar. Dennoch hat die implizite Geopolitik des Festivalnetzwerks dazu beigetragen, das historische Dritte Kino von Glauber Rocha, Fernando Solanas und Sembène auseinanderzudividieren und durch ein global anschlussfähiges Export-Kunstkino zu ersetzen, dessen aktueller Protagonist Weerasethakul ist.

Mit den ästhetischen und politischen Agenden der 1970er Jahre hat dieses seinerseits heterogene Kino aber auch deshalb kaum mehr etwas zu tun, weil sich die weltgeschichtlichen Koordinaten verschoben haben. Das mit der Entkolonisierung assoziierte Dritte Kino konnte über die Differenzen zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern hinweg einen stabileren Rahmen herstellen, der filmische Repräsentation, politische Selbstbestimmung und nachkoloniales Nation-Building einander zuarbeiten lässt.

Weerasethakuls semidokumentarischer Erstling „Mysterious Object at Noon“ (2000) bezieht sich noch auf die nachfolgenden Erosionen des „Globalisierungszeitalters“. In den Oral-History-Praktiken, die der Film sich bis in seine visuelle Form hinein anverwandelt, entfaltet sich nicht nur eine regionale und subalterne Kartografie „von unten“, sondern zugleich eine ganze Bandbreite an alternativen Formen der Speicherung, Tradierung und Vergemeinschaftung historischen Wissens. Die kommunikativen Praktiken verlängern sich dabei in ihren filmischen Ausdruck, werden modern reformuliert und ergeben ein antiessentialistisches Verständnis der Tradition.

In dieser Dimension geschichtlicher Reflexion trifft sich das vermeintlich entschärfte Post-Third-Cinema Weerasethakuls mit dem Kernanliegen der Filme von Ousmane Sembène, die gleichfalls zeitgemäßen Widerstandsressourcen gegen postkoloniale Überschreibungen nachspüren. Sembènes immer noch aktuelle Kritik an der Verteilung und Hierarchie filmischer Sichtbarkeit gilt auch deshalb weiterhin: Wer wen im Kino wie anblickt, ist eine Frage der in Umlauf gebrachten ästhetischen und politisch-ökonomischen Karten der Welt.