Ökolumne
: Unbegründete Angst

■ Die ersten Atomkraftwerke müssen bis 2002 vom Netz

Es droht ein Atomausstiegsgesetz mit 30 Jahren Laufzeit und einer Übergangsfrist von 3 Jahren. In dieser Legislaturperiode soll kein einziges AKW vom Netz müssen. Zwar wäre für zwei AKWs die 30-jährige Laufzeit in diesem bzw. im nächsten Jahr abgelaufen, aber abgeschaltet werden soll erst ein Jahr nach der nächsten Bundestagswahl, im Jahr 2002.

Im Wahlprogramm haben wir versprochen, alle administrativen, wirtschaftlichen und legislativen Mittel wie ein Atomausstiegsgesetz zu nutzen, um die Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg umzusetzen. Von „sofort“ im Wortsinn ist schon lange keine Rede mehr. Aber „deutlich unter 30 Jahren“ und „die ersten AKWs müssen in dieser Legislaturperiode vom Netz“, das sollte es nach allen Verlautbarungen der letzten 12 Monaten schon sein. Jetzt sollen es zwingende Gründe des Verfassungsrechts sein, die einer Realisierung der eingeschmolzenen Forderung entgegenstehen. Juristische Bedenken müssen herhalten, weil es politisch passt.

Schon die 30-Jahre-Frist ist aus juristischen Gründen nicht zwingend. In etwa 30 Jahren sollen sich die Investitionen rentiert haben, damit wäre die Abschaltung keine Enteignung. Es könnten auch 25 oder 35 Jahre sein.

Noch weniger verfassungsrechtlich sicher bestimmbar ist die Dauer der Übergangsfrist. Ein professorales Gutachten geht davon aus, dass einem AKW-Betreiber 1 bis 3 Jahre gegeben werden müssen, um sich auf die veränderte Lage einzustellen. In Ministerien wird auch von 2 oder 5 Jahren gesprochen, je nach Interessenlage. Nicht nur juristische, sondern auch technische und ökonomische Kriterien spielen eine Rolle. Prinzipiell kann sich jeder an der Spekulation beteiligen.

Völlig offen ist auch, wann die Übergangsfrist beginnt. In der vergangenen Woche haben die Verfassungsrichter Nutzern von Grundstücken in der DDR den Vertrauensschutz abgesprochen – ab dem Tag der Entmachtung von Erich Honecker: Von diesem Zeitpunkt an hätten alle wissen können, dass die Rechts- und Gesellschaftsverhältnisse der DDR keinen Bestand mehr haben würden.

Spätestens nach Veröffentlichung der Koalitionsvereinbarung wussten die AKW-Betreiber, dass es mit dem Teufelszeug zu Ende gehen sollte. Unzählige Mal wurde bekräftigt, dass der Ausstieg aus der Kernenergie bald kommt. Fraglich konnte nur das Wann und Wie sein. Seit Oktober 1998 konnte also niemand mehr auf die weitere Nutzung der Kernenergie vertrauen. Eine 3-jährige Vertrauensschutzfrist wäre im Herbst 2001 abgelaufen, egal ob das Gesetz in Kraft tritt. Die ersten AKWs könnten in dieser Legislaturperiode vom Netz gehen.

Die Angst vor der Entscheidung des Verfassungsgerichts ist unbegründet. Vor allem, wenn dem Eigentumsrecht der AKW-Betreiber durch eine sehr lange Laufzeit im Gesetz Genüge getan ist. Das Gericht hat immer wieder betont, dass die politischen Fragen in dieser Republik vom Gesetzgeber zu entscheiden sind. Nur klare Verstöße gegen die Verfassung sollten zur Aufhebung von Gesetzesvorschriften führen. Auch würde nicht das ganze Gesetz für nichtig erklärt, sondern allenfalls eine konkret angefochtene Bestimmung, hier etwa die Länge der Fristen. Wäre es schlimm, wenn das Verfassungsgericht in einer Frage, in der fünf sachverständige Gutachter fünf verschiedene Fristen nennen, eine andere Auffassung vertritt als die Parlamentsmehrheit?

Wenn die AKW-Betreiber ihre Drohung, Verfassungsbeschwerde einzulegen, überhaupt wahr machen, dann müsste man womöglich die Fristen verlängern. Na und? Es gibt Schlimmeres für Rot-Grün. Eine Schadenersatzforderung in Milliardenhöhe käme überhaupt nicht in Betracht. Die AKWs, die als nächste vom Netz gehen sollen, laufen weiter, während die Verfassungsbeschwerde anhängig ist. So lange entsteht gar kein Schaden.

Bei Fragen von wesentlicher gesellschaftlicher Bedeutung entscheidet das höchste Gericht normalerweise binnen zwei Jahren. Bevor das erste AKW stillgelegt würde, könnte also die Grundsatzfrage entschieden sein. Das würde eine verfassungsrechtlich sichere Basis für eine weitere Ausstiegspolitik schaffen.

Wir müssen das politisch Richtige tun, dann können wir uns nicht blamieren: Nicht politisch, nicht verfassungsrechtlich. Das Richtige ist: Die ersten AKWs gehen spätestens 2002 vom Netz. Hans-Christian Ströbele