Mit 7 km/h über den Totenfluss

Die „Canterbury Tales“ auf Amerikanisch: In „The Straight Story“ vertreibt David Lynch die Geister, die er rief  ■   Von Hanns Zischler

Es gibt nichts mehr abzumähen in diesem riesigen Land, zumindest nicht mehr für die kleinen Leute

Der Landarbeiter Alvin Straight aus Laurens im US-Staat Idaho erleidet eines Tages wie aus heiterem Himmel einen Schwächeanfall. Wir hören den schweren Schlag wie einen Knall, aber wir sehen den Vorfall nicht. Der harte, kurze Auftakt fährt uns wie ein akustisches Menetekel in die Glieder. Und fast ängstlich geht die Kamera der Herkunft des Geräusches nach, das nur von außen, an der dünnen Holzwand von Straights Haus wahrgenommen wurde: ein erster Warnschuss an den Zuschauer, mit langem Nachhall.

Gleich zu Anfang des Films bewegen wir uns auf dem Vektor, der mittlerweile zum zentralen Motiv von Lynch geworden ist: der Vorstoß ins Innere, die Entdeckung von etwas, das geheimnisvoller und verschlüsselter ist als die sichtbare Realität.

Duplizität der Ereignisse heißt hier die tautologisch-beschwichtigende Formel, die den darunter schlummernden Aberglauben nicht wecken will: Alvin erfährt, dass sein Bruder in Mount Zion, Wisconsin, einen Schlaganfall erlitten hat. Sofort wird er von einer mächtigen Unruhe ergriffen und will um jeden Preis den Mississippi überqueren und nach Wisconsin fahren. Sechshundert Meilen von Laurens entfernt. Doch die tiefere Sorge um das Wohl des Bruders rührt, wie wir nach und nach erfahren, von einem Streit her, der vor Jahren die beiden auseinander gebracht hatte und bis ins Alter unversöhnt geblieben ist.

Alvin lebt mit seiner leicht sprachbehinderten, kindlich gebliebenen Tochter in sehr bescheidenen Verhältnissen. Sissy Spaceks flirrendes Spiel erinnert an einen verwundeten Vogel; ein Handikap, das selbst ihr flatterndes Sprechen klagend und lachend durchsetzt und das man nicht synchron-amputiert hören möchte. Die Freunde in diesem ländlichen, armen Amerika sind – wie überall, wo das Land noch umumschränkt herrscht – die Nachbarn. Alvin hat kein eigenes Auto.

Nachdem er mit seinem älteren Rasenmäher auf der Landstraße Schiffbruch erlitten – und die Maschine in Brand geschossen, ja hingerichtet hat (es ist das einzige Mal, dass in diesem Film real ein Gewehr auftaucht), erwirbt der alte Mann einen robusten John-Deere-Rasenmäher (Baujahr 1966) und macht sich auf den Weg: Höchstgeschwindigkeit 7 km/h, Vorstoß ins Unbekannte. Eine Reise, die mehr und mehr mit Alvins Vergangenheit und den Geschichten der zufälligen Weggefährten (Alvins eigener und der Gegenwart anderer) angefüllt wird, einer Zukunft entgegen, die der Tod – des Bruders wie der eigene – sein kann.

Wer langsam fährt, kommt gut voran, sieht viel und dringt tief ein. Der Raum, den der Film vor uns aufschließt, sind die riesigen Areale der Monokulturen, die Staubwolken der Maisernte, die monochromen Landschaften unter den großen Himmeln. Elastisch und mit überwältigender Langsamkeit dehnt sich der große kontinentale Binnenraum vor uns aus. Die Musik von Angelo Badalamenti – Lynch nannte sie in einem Interview eine „Country-Symphonie“ – unterstützt diese Geografie auf opernhaft sentimentale Weise. Und wie immer bei Lnych ist die Bewegung des Films eine Suche nach dem „fantastischen Augenblick, in dem sich einem plötzlich eine Tür öffnet, man schwebt hinaus und wird Größeres gewahr“, wie Lynch einmal gegenüber Chris Rodley gesagt hat. Die Auf- und Abblenden in „The Straight Story“ sind die Soffitten, die mechanischen Dispositive, mit deren Hilfe diese Einblicke und Türen vor uns geöffnet werden.

Eine Pilgerreise ganz besonderer Art hebt an. Und wie in den mittelalterlichen „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer, wo ja auch in wechselnden Gesprächen und Erzählungen ein ganzes soziales Panorama Zug um Zug ausgefaltet wird, erhalten die scheinbar belanglosen wie die vordergründig dramatischen Begegnungen längs der Straße und des Nachts auf den Feldern eine unaufdringliche symbolische Kontur. Die junge, schwangere Trebegängerin, die sich mehr selbst verworfen hat, als dass sie ausgestoßen wurde, erfährt im Gespräch mit Alvin am Feuer so etwas wie Trost und Zuspruch.

Einen unheimlichen und hysterischen Augenblick erlebt Straight mit einer Autofahrerin, die einen Waipiti-Hirsch überfahren hat (auch hier hören wir den Unfall, ehe wir ihn sehen). Sie ist außer sich und bezichtigt sich unter Schock der Tat – es ist bereits das dritte Tier, das sie, die doch diese Tiere liebt, in einer Woche getötet hat. Doch dann hüllt Lynch den Vorgang in ein kleines Ritual: Straight brät und isst das Wildbret und hängt das Geweih als Trophäe an seinen Hänger. Aus dem trivialen, blutigen Zwischenfall ist in einem unbewusst-blinden Akt ein Totemtier hervorgegangen, das die weitere Reise des Pilgers begleiten und beschützen soll.

In allerhöchste Gefahr gerät Straight, als sein Gefährt während einer Talfahrt einen kleinen Hügel hinab in eine nicht mehr zu bremsende Beschleunigung gerät und er schließlich nur mit allergrößter Mühe vor einer Gruppe von Löschen übenden Feuerwehrleuten zum Stehen kommt. Überwältigend ist die bedingungslose Hilfe, die ihm von den Einheimischen zuteil wird. Und doch verhält sich Alvin Straight ihnen gegenüber wie ein vorsichtiger, scheuer Fremder, fast wie ein Trapper: Niemals auf seiner Fahrt betritt er das Haus seiner wechselnden Gastgeber. Er bleibt draußen, auf der Straße, unter freiem Himmel oder im eigenen Zelt, er bewegt sich wie ein Nomade.

Doch was in der bloßen Aufzählung der Reise wie ein einziger, harmonischer Verlauf, eine beschauliche Fahrt durch den Nachsommer des Landes wie des individuellen Lebens anmutet, weist mitunter dunkle, finstere Klüfte auf. In einem Gasthaus, wo Straight nach langer Abstinenz zum ersten Mal wieder ein Bier trinkt, kommt er mit einem Kriegsveteranen ins Gespräch. Der Zweite Weltkrieg nimmt sich im Mund der Erzähler zunächst wie ein fernes, mythisches Ereignis aus, das in dem Fernsehbild hinter den beiden Männern sein entrücktes Echo in die Gegenwart findet: „Big Storm Ahead“ verkündet der Wetterbericht auf dem Bildschirm. Und diesem Veteranen erzählt Alvin die schaurige Geschichte von dem Kameraden, den er, Straight, versehentlich erschossen hat – ohne dass diese Tat, unter der er bis heute leidet, je ans Licht drang. Ein Brudermord' eine weitere, zeitlich weit gespannte Duplizität, in der das verhüllte Motiv der Pilgerreise fast unverhüllt und schlagartig aufscheint.

Von diesem Augenblick – ein Augenblick rauschhafter Ernüchterung – wird die big journey zu einer Abbitte an den von allen Kommunikationssträngen abgeschnittenen kranken Bruder. Doch der drohende Tod, die Angst, zu spät zu kommen, den Bruder nicht mehr lebend zu sehen, sondern ihn nur noch als einen Namen wie einen Sticker den vielen Geschichten aufgenäht zu haben, belebt und beschleunigt auch die Fahrt und vitalisiert den alten Alvin Straight gleichermaßen.

Schwindel erregend die Überquerung des Mississippi, die Einfahrt nach Wisconsin, über eine hohe Brücke. Der große Strom ein Totenfluss – und auch hier ist es der Soundmix, der die entscheidende, unheimliche Note erzeugt.

In ein wieder verwildertes Amerika dringen wir ein, wenn Straight in Mount Zion anlangt. Die Hütte des Bruders ist das Ende der weißen Zivilisation. Ein Geisterhaus unter herbstlichen Laubbäumen und dunklen Farnen; von Mount Zion scheint es außer diesem windschiefen Verschlag nur noch den Namen, aber keinen dazugehörigen Ort mehr zu geben.

Die scheinbar groteske Verstiegenheit von Alvins Rasenmäherreise kommt hier zu ihrem Recht: Es gibt nichts mehr abzumähen in diesem Land, zumindest nicht für die kleinen Leute vom Schlag der Straights. Ihnen ist in gar nicht mythischer Zeit so ziemlich alles genommen worden von einer anonymen Gesellschaft – so wie die Vorväter der Straights den einstigen indianischen Besitzern das Land genommen haben, die dementsprechend unsichtbar sind beziehungsweise in triviale Totemtiere verwandelt wurden. Und wie in diesem Landstrich keine Indianer mehr herumgeistern, gibt es auch keine Schwarzen. Der Film zeigt diesen Teil der USA als ein in den Farben freundlichen Elends gehaltenes weißes Reservat.

Das Wiedersehen und die Versöhnung der Brüder schießt in einer einzigen Frage zusammen, die der wie ein Geist aus dem Geisterhaus tretende Bruder (Harry Dean Stanton in dem kürzesten, aber ungemein wirkungsvollen Auftritt seiner Karriere) an den Weitgereisten stellt. Das Ende ist lakonisch und ergreifend.

Lynchs Film läuft quer zum konsumistischen Kino der USA, er ist gehalten von einem unverrückbaren Blick auf das arme weiße Amerika: es ist ein ausgesprochener Glücksfall, dass ein No-Name wie Richard Farnsworth diesem eigensinnigen und umtriebigen Alvin Straight Würde und Gesicht gegeben hat.

Lynchs Film läuft aber auch quer zu seinem eigenen Kino; die quälenden, aus Alpträumen aufgeschossenen Gesichter (und Gesichte) seiner früheren Filme sind wie weggezaubert – und fast kann man es nicht glauben, dass nicht irgendwann auch in diesem Film plötzlich ein banger Abgrund sich auftut und uns verschlingt. Das wirklich Unheimliche von Alvins Reise ist diese lauernde und von unseren verborgenen Angstlüsten gesteuerte Erwartung der Katastrophe. Lynch lässt sie nicht eintreten. Möglicherweise hat er sich endgültig seiner Obsessionen so weit entledigt, dass sein (und unser) Blick frei wird – für die sehr irdischen Beschwerlichkeiten seiner Figuren. Ja, in der Art, wie er sie begleitet und ihnen begegnet, drängt sich die Ahnung auf, der Autor selbst sei durch die Begegnungen mit seinen Figuren von schlimmen Träumen erlöst worden. „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“. Regie: David Lynch. Mit: Richard Farnsworth, Sissy Spacek, Harry Dean Stanton u. a., USA 1999, 111 Min.