■ Das „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ beseitigt einen Anachronismus – und ist hilflos gegenüber neuen Problemen
: Kindesmisshandlung ist kein Relikt

Nach 20 Jahren Tauziehen sollen Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben

Stellt eine Ohrfeige eine mögliche Erziehungsreaktion dar, und ist eine Tracht Prügel mit Blutergüssen erlaubt? Das deutsche Recht gibt auf solche Fragen keine eindeutigen Antworten. Strafrechtlich verboten sind „körperliche“ und „rohe“ Misshandlungen. Das Zivilrecht untersagt „unzulässige Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen“. Unterhalb dieser Schwellen besteht das „Züchtigungsrecht“ von Eltern aber fort. Eine generelle Orientierung am Leitbild gewaltfreier Erziehung fand unter der früheren CDU/FDP-Koalition keine Mehrheit. Nach 20-jährigem Tauziehen soll nun gelten: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.“

Dies klingt, als ob der subjektive Rechtsanspruch von Kindern gestärkt würde. Tatsächlich aber löst das neue Recht seinen Anspruch nicht ein, dem „Kreislauf der Gewalt“ – Opfer elterlicher Gewalt sind später selbst vermehrt gewalttätig – entgegenzuwirken. Die Initiative beruht auf der irrigen Annahme, dass das hohe Ausmaß familiärer Gewalt ein Problem verbreiteter autoritärer Einstellungen sei. In Wahrheit läuft das Ideal gewaltfreier Erziehung in der Mehrheitskultur offene Türen ein: Nach ihren Einstellungen befragt, ist nur noch eine kleine Minderheit vom erzieherischen Wert einer Ohrfeige überzeugt. Nur bei Teilen der Unterschicht und bei einzelnen Migrantengruppen, wo autoritäre Wertmuster fortbestehen, kann die geplante Informationskampagne zum Gewaltverbot deshalb ein Umdenken anregen: Wer seine Kinder schlägt, erzieht nicht.

Solche wohlfeilen Appelle ignorieren indes die Realität all der Eltern, die wider besseres Wissen ihre Kinder schlagen und entwürdigend behandeln. Familiäre Gewalt ist heute überwiegend kein archaischer Rest einer vergangenen Epoche autoritärer Werthaltungen, sondern durch den Prozess der Modernisierung erzeugte Brutalität von Eltern, die nicht über die Voraussetzungen verfügen, den hohen Anforderungen moderner Erziehungsverantwortung zu genügen. Auch prügelnde Eltern teilen mehrheitlich das Ideal vom Kind als Teil des Lebenssinns und der Selbstverwirklichung seiner Eltern. Sie wollen ihrem Nachwuchs all die Liebe schenken, die sie selbst oft entbehren mussten. Aber oft haben sie überzogene Erwartungen an das Kind, das dann schnell enttäuscht. Kommt Stress durch Arbeitslosigkeit, Wohnungsprobleme, unstete Partnerbeziehungen und soziale Isolation hinzu, schwankt ihr Erziehungsstil zwischen Laisser-faire und aggressiven Ausbrüchen, zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung. Mit den in den vergangenen Jahrzehnten ausgeweiteten elterlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten sind sie überfordert.

Die rot-grüne Gesetzesinitiative ignoriert dies und setzt allein auf Einsicht und Mitwirkungsbereitschaft. Hilfs- und Beratungsangebote sollen ausgebaut, eine Kriminalisierung der Eltern aber vermieden werden – denn misshandelte Kinder sind emotional meist weiterhin an diese gebunden. Bestrafung, Sorgerechtsbeschränkungen und eine Fremdunterbringung der Kinder gelten deshalb heute als Irrwege. Stattdessen sollen Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung gestärkt werden.

Was aber passiert, wenn Eltern unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Misshandlungstatbestände gegen die Rechtsnorm gewaltfreier Erziehung verstossen, Beratung und Hilfen jedoch ablehnen? In solchen häufig vorkommenden Situationen ähnelt das Gesetzesvorhaben einem zahnlosen Tiger. Wo Kindern geholfen werden muss, Eltern aber uneinsichtig sind, hat sich mit der neuen Orientierung auf Helfen statt Strafe ein problematisches Vakuum geöffnet. Zivilrechtlich gibt es jenseits der „Keule“ von Sorgerechtsbeschränkungen und einer Fremdunterbringung des Kindes keine Wege, verbindliche Absprachen und gemeinsame Handlungsstrategien mit prügelnden Eltern zu entwickeln. Oft bleiben Sozialhelfern nur Mahnungen und Appelle. In der Praxis führt dies zu einer problematischen „Dienstleistungsorientierung“ der Jugendhilfe: Sozialarbeiter gehen in Familien, bieten Beratung und Beistand in Erziehungsfragen an – und müssen dann trotz erkanntem Hilfebedarf das Kind ungeschützt dort zurücklassen. Selbst in den Fällen, wo eine Beschränkung oder der Entzug des Sorgerechts sinnvoll wären, können gerichtsfeste Beweise oft erst in längerem Kontakt mit den Eltern und dem Kind gesammelt werden. Verweigern die Eltern eine Zusammenarbeit, zieht sich das Jugendamt zurück.

Auch bei jenen Kindern und Jugendlichen, die zukünftig ihr „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ ernst nehmen und beim Jugendamt um Schutz nachsuchen, droht das Recht nur auf dem Papier zu stehen. Zwar haben sie auf Wunsch schon heute einen befristeten Anspruch auf eine „Inobhutnahme“. Ergeben sich aber keine gerichtsfesten Beweise, die eine Sorgerechtsbeschränkung rechtfertigen und lehnen Eltern Hilfsangebote ab, müssen die Kinder anschließend zurück in die Herkunftsfamilie – auch gegen ihren Willen. Andere Möglichkeiten einer Konfliktregelung fehlen.

Die rot-grüne Initiative verbessert den Schutzstatus von Kindern und Jugendlichen also nicht. Auch weiterhin können elterliche Rechte dazu benutzt werden, massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber Kindern zu ermöglichen und zu legitimieren. Nach den negativen Erfahrungen mit der Staatserziehung in der NS-Diktatur und später in der DDR betont die bundesdeutsche Rechtsordnung ausdrücklich Autonomie und Privatheit von Erziehung: Eltern sollen frei von staatlichen Einflüssen entscheiden, wie sie die Erziehung ihrer Kinder gestalten.

Doch die Appelle ignorieren Eltern, die wider besseres Wissen schlagen

Allerdings weist die Verfassung dem Staat ein „Wächteramt“ zu: Die Menschenwürde von Kindern hat Vorrang vor elterlichen Gewohnheitsrechten. Deshalb ist die psychologisch und pädagogisch sinnvolle Norm gewaltfreier Erziehung auch verfassungsrechtlich plausibel. Ein rein privates Verständnis elterlicher Erziehung, das manche Gegner der jetzigen Reform reklamieren, liegt dem Grundgesetz nicht zugrunde. Die herausgehobene Stellung der Eltern hat freilich eine zugehörige Kehrseite: Indem vorrangig die Eltern zur Erziehung berufen sind, sind sie auch verpflichtet, diese Verantwortung wahrzunehmen. Angesichts der Überforderung nicht weniger Eltern mit den gewachsenen Erziehungsaufgaben bedarf es heute einer neuen Balance zwischen Elternverantwortung, staatlichen Mindestschutzgarantien und den Rechtsansprüchen Heranwachsender. In Konfliktsituationen sind die Positionen des Kindes und der Jugendhilfe zu stärken: Hierzu zählen ein selbstbestimmtes Aufenthaltsbestimmungsrecht für geschlagene Kids und verbesserte Möglichkeiten zur Intervention durch die Jugendhilfe, wo Eltern Hilfen ablehnen.

Harry Kunz