Fürchterliche Fischfragen

■ Nach den Erdbeben in der Türkei: Was ist mit den Hamsis los?

„Ham' Sie Hamsi?“ – diese Frage konnte man tausend und ein Jahr lang in allen guten Fischrestaurants der Türkei an den Kellner richten, und die Antwort lautete stets: „Jau, Hamsi hama!“ Wie ein Schlag traf da die Überschrift, mit der Anfang Oktober die türkische Zeitung Hürriyet aufmachte: „HAMSI SOKU“. Der „Hamsi Schock“ ging einem durch Mark, Bein und Mag', denn in letzteren sollten sie dieses Jahr erstmals nicht gelangen, die leckeren „Hamsi“ ...

Das türkisch-deutsche Wörterbuch gibt an, dass „Hamsi“ keine Hamster, sondern schlicht Sardellen oder Anchovis seien. Allerdings ist diese Übersetzung, wie so viele, höchst unzulänglich, da „Hamsi“ mehr sind als etwa sechs bis acht Zentimeter große Fische, die von Fabrikschiffen in Weißblechbehältern zur Welt gebracht werden, in einer Salz- oder Öllake ihr Untotendasein verschwimmen, bevor sie irgendwann mit Hilfe eines Dosenöffners aus ihren Särgen befreit werden. Nein, türkische „Hamsi“ waren schon immer viel mehr!

Wenn bei Imrali die rote Sonne im Meer versank, zogen die Fischer aufs Marmarameer hinaus. In liebevoller Handarbeit pflückten sie im Herbst die „Hamsi“ aus den Wellen, betteten sie zärtlich in gemütliche Holzkästchen und wickelten sie in Frotteehandtücher, damit sich kein einziger „Hamsi“ auf der Reise zum Delikatessenrestaurant erkältete. Und auch dort, in kuschelig warmen Küchen, wurden sie getätschelt und gepöngelt: Entweder durften sie in einem feinen Gemisch aus gutem Öl und Zitronensaft zusammen mit Oliven und Peperoni drei Monate planschen, oder sie wurden in einen leichten Mehlmantel gehüllt, danach in einer Pfanne ausgesetzt und so lange gewendet, bis sie knusprig braun waren – wie Touristen nach einem vierwöchigen Aufenthalt in Antalya.

Jahrein, jahraus ging das in der „dunklen Jahreszeit“ so, bis die Hürriyet besagten Artikel veröffentlichte: „HAMSI SOKU“. Was war geschehen? Zehntausende Menschen waren durch das Erbeben am 17. August in der Türkei umgekommen oder verletzt worden, so wie ungezählte andere Erdbewohner – Hund, Katze, Maus – gleichfalls den Tod gefunden oder physischen und psychischen Schaden genommen hatten. Selbst die Meeresbewohner waren von der Naturkatastrophe nicht verschont geblieben; sie wurden von Chemikalien, die infolge der Zerstörung der Raffinerie von Izmit in die See flossen, vergiftet. Die „Hamsi“, die gerade zufällig vorbeiruderten, traf es besonders schlimm, sind sie doch die Sensibelchen unter den See-Lebewesen. Die zuständigen Behörden handelten, allen anderen Koordinationsstörungen zum Trotz, unerwartet prompt: Istanbuls Oberbürgermeister strich kurzerhand die Fischgerichte von den Speisekarten, und für einige Tage lautete die Antwort auf die Frage nach „Hamsi“: „Hayir, hamamiyoruz!“ – „Nein, hama nich!“

Seit einigen Wochen ist nun alles wieder, wie der Türke sagt, „tamam im hamam“. In den Restaurants und auf den Märkten Istanbuls blubbern die Hamsi wieder fröhlich vor sich hin und warten darauf, verspeist zu werden. Selbst in der Weidengasse, dem Schnurrbartviertel Kölns, sind „Hamsi“ wieder zu erstehen – tiefgefroren, aber wohlig verpackt.

Und warum das alles? Vielleicht sind die Fischer dazu übergegangen, ihre – unsere – „Hamsi“ zu ernten, bevor sie das vergiftete Marmarameer erreichen. Vielleicht aber wollen die Türken auch lieber das Risiko eingehen, an kontaminierten „Hamsi“ zu sterben, als nur eine einzige der Dosensardellen zu essen, die mit den Erdbebenhilfslieferungen aus Europa gekommen sind. Boykott? Protest? Vielleicht gegen die schockierende Zwangsumsiedlung, die in Göttingen für ein neues Universitätsgebäude droht – nämlich der größten deutschen Kolonie von Feldhamstern. Jens Halberbock