Das auserwählte Volk

■ Mythen einer Nation: Gespräch mit dem slowenischen Philosophen und Psychoanalytiker Slavoj iek über Serbien-Bilder und Handkes „verkehrten Rassismus“

„Aus Slowenien, einem Teil Ex-Jugoslawiens, stammend, scheine ich dafür prädestiniert zu sein, über den Haß auf den Nächsten zu sprechen.“ Mit diesen Worten beginnt Slavoj iek, psychoanalytisch geschulter Philosoph aus Ljubljana, sein neues Buch „Liebe deinen Nächsten? Nein, danke!“ Der linke Fast-Forward-Denker, der eben 50 wurde, hat sich zuletzt auch mehrfach über den aktuellen Krieg im Kosovo geäußert, so unter anderem in der „Zeit“.

taz: Der Krieg gegen Jugoslawien ist von der Nato damit legitimiert worden, daß der Führer dieses Landes, Slobodan Miloevic, als das personifizierte Böse dargestellt wurde. Ist Miloevic wirklich die Wurzel allen Übels?

Slavoj Zizek: Wenn die westlichen Mächte die ganze Zeit wiederholen, daß sie nicht gegen die serbische Bevölkerung Krieg führen, sondern nur gegen ihren bösen Anführer, dann sitzen sie einem – typisch liberalen – Vorurteil auf: daß nämlich die Serben bloß die Opfer Miloevics seien, von dem sie manipuliert würden. Aber es ist eine schmerzliche Tatsache, daß der aggressive serbische Nationalismus breiten Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Deshalb sind die Serben auch nicht passive Opfer einer nationalistischen Manipulation, keine „verkleideten US-Amerikaner“, die bloß darauf warten, von einem nationalistischen Anfall geheilt zu werden.

Warum sind die Serben so nationalistisch eingestellt? Sind wir damit nicht unvermeidlich bei der unendlichen Geschichte des Balkans, ohne die dieser Krieg nicht zu verstehen ist?

Ich denke, daß darin eine zweite Fehleinschätzung liegt – nämlich daß die Menschen auf dem Balkan in der Vergangenheit leben und wieder und wieder alte Kämpfe ausfechten würden. Ich bin versucht zu sagen, daß genau diese beiden Klischees umgedreht werden müssen. Nicht nur ist die serbische Bevölkerung nicht „gut“, da sie sich mit obszönem Vergnügen manipulieren läßt. Es gibt auch keine alten Mythen, die wir untersuchen müßten, um die komplexe Lage zu verstehen: Erst der gegenwärtige Ausbruch eines rassistischen Nationalismus läßt die alten Mythen wiederaufleben!

Nichtsdestotrotz spielen die alten Mythen aber doch eine Rolle. Zumindest in der Art und Weise, wie die Serben nun mit ihrer mißlichen Lage umgehen ...

Gewiß. Zentral ist hier der Mythos einer Nation, die aufgrund ihres langen Leidens und ihrer Opferrolle in den Stand der Auserwähltheit aufgestiegen ist. Seit einigen Jahren bewirbt die serbische Propaganda das Land wie ein zweites Israel – mit den Serben als dem auserwählten Volk, dem Kosovo als der Westbank, wo sie die „Intifada“ der „albanischen Terroristen“ bekämpfen. Die übermütig-spöttische Verteidigung eines Serben für den Abschuß eines Stealth-Bombers war: „Sorry, wir wußten nicht, daß er unsichtbar ist!“ Vielleicht wäre das die Antwort auf die serbischen Klagen über die „irrationalen barbarischen Bombardements“: „Sorry, wir wußten nicht, daß ihr eine auserwählte Nation seid!“

Wie erklären Sie sich Peter Handkes verstörende Identifikation mit den Serben? Hat das auch etwas mit der auserwählten Opfernation zu tun?

Meiner Ansicht nach liegt der Schlüssel zum Verständnis von Handkes Position in dem, was ich den „verkehrten Rassismus“ nenne: Aus der Perspektive der vorgeblich inauthentischen westlichen Konsumgesellschaft wird das Andere (in dem Fall: die Serben) zum Modell des authentischen Lebens erhoben. Womit sich Handke tatsächlich identifiziert, ist nicht das heutige Serbien in all seinem Elend, sondern ein bestimmtes westliches Bild von Serbien, einem konstruierten Objekt von zweideutigem Haß und Faszination. Das ist auch der Grund, warum die wahren Opfer von Handkes Solidarisierung mit Serbien nicht die Bosnier, Albaner oder andere militärische Gegner der Serben sind, sondern die große Mehrzahl der Serben selbst.

Wie das?

Nun, zunächst einmal sind sie es, die mit ihrem Fleisch und Blut den Preis dafür bezahlen, der Gegenstand der dichterisch-militärischen Träume ihrer Führer zu sein. Die Serben sind keineswegs mit ihrer mißlichen Lage als Europas Outcasts einverstanden, die sie dazu zwingt, zu primitiven Strategien des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überlebens zurückzukehren. Die große Mehrzahl der Serben will vielmehr eben dieser Lage entfliehen und genau das haben, was Dichter wie Handke als aseptische westliche Konsumgesellschaft denunzieren.

Wie interpretieren Sie in diesem Zusammenhang die Rockkonzerte in Belgrad, mit denen die Serben gegen die Bombardements protestieren?

Die Atmosphäre in Belgrad – zumindest in den vergangenen Tagen – hatte etwas seltsam Karnevaleskes. Wenn die Leute nicht im Luftschutzkeller sind, tanzen sie unter dem Motto „Mit Musik gegen die Bomben“ zu Rockmusik oder ethnischer Musik und spielen die Rolle der trotzenden Helden, da sie wissen, daß die Nato nicht wirklich zivile Ziele bombardiert. Diese obszöne Karnevalisierung, die einige verwirrte Pseudolinke anscheinend fasziniert, ist tatsächlich das andere, öffentliche Gesicht der „ethnischen Säuberungen“, die 300 Kilometer weiter südlich in einem Ausmaß wie in Ruanda stattfinden und die von den serbischen Medien natürlich totgeschwiegen werden. Unsere Reaktion darauf müßte die Frage sein: „Warum geht ihr nicht in den Kosovo und macht ein Rockfestival in den albanischen Teilen von Pritina?“

In Ihrem Essay in der „Zeit“ meinten Sie, daß die tatsächlichen Grausamkeiten des technologischen Krieges auch im Westen nicht mehr gezeigt würden. Gleichzeitig wird ein Film wie „Saving Private Ryan“ – dessen Bildersprache mehr als nur explizit ist – mit Oscars überhäuft. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein, im Gegenteil. Meines Erachtens gibt es sehr wohl einen Zusammenhang zwischen Spielbergs Film und der Bombardierung des Irak und Jugoslawiens: nämlich die Phantasie vom Krieg ohne Verlust. Die anscheinend antimilitaristische Darstellung des Krieges und seiner Blutbäder in „Saving Private Ryan“ muß vor jenem Hintergrund gesehen werden, der die ultimative Lektion der letzten US-amerikanischen Militärinterventionen – im besonderen der Operation „Wüstenfuchs“ gegen den Irak Ende 1998 – darstellt. Gefechte, bei denen die angreifenden Truppen unter dem Zwang operieren, daß sie verlustfrei sein müssen. In diesem Sinn verurteilt das Blutbad von „Saving Private Ryan“ keineswegs den Krieg. Sondern es ist vielmehr die perfekte Legitimation der jüngsten Strategie eines Krieges ohne Opfer in den eigenen Reihen.

Bleibt die Frage, wie es in diesem Krieg, den die Nato anscheinend etwas planlos begonnen hat, nun weitergeht. Sollten Ihrer Meinung nach Bodentruppen eingesetzt werden?

Ich bezweifle leider auch, daß es irgendeine Perspektive in der Nato gibt, außer der vagen Idee, die Militärmaschinerie Serbiens irgendwie zu schwächen. Diese totale Orientierungslosigkeit, die eine Folge des über zehnjährigen Zögerns der westlichen Politik ist, macht mich wirklich besorgt. Wenn man mich fragt, dann würde ich die Bombardements gegen zivile Ziele natürlich so weit wie möglich einschränken. Auf der anderen Seite glaube ich, daß man den Weg zu Ende gehen sollte – und das bedeutet den Einsatz von Bodentruppen. Ich halte es für einen Mythos, daß das so gefährlich ist: Man kann die serbischen Militärkräfte ausschalten.

Interview: Klaus Taschwer

Slavojiek: „Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne“. Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider. Verlag Volk & Welt, Berlin 1999, 286 Seiten, 42 DM