■ Seit die EU immer mehr entscheidet, bindet Bayern nur die Sozialpolitik an die Bundesrepublik. Folgt die bayerische Autonomie?
: Nichts ist unmöglich

„Bayern ist der älteste Kulturstaat Europas.“ Diese kürzlich während einer Kabinettssitzung des Bayerischen Landtages geäußerte Geschichtsauffassung ist ein Beispiel für ein Selbstverständnis, wie es von Ministerpräsident Edmund Stoiber und der CSU propagiert wird. So viel Ignoranz und Anmaßung schockiert – und läßt den ungläubigen Zeitgenossen ratlos in seinen Sessel sinken. Was soll man bloß mit diesen Bayern anfangen, deren frei gewählte Regierung im Landtag regelmäßig so tut, als sei Bayern irgend etwas, aber auf gar keinen Fall ein einfaches Bundesland neben 15 anderen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland?

Man fragt sich bei dem Trommelfeuer, das Edmund Stoiber mit seinen Tiraden und Drohgebärden – Wenn wir nur wollen, verhindern wir den Euro, den Beitritt der Tschechischen Republik in die EU, und die Agenda 2000 der Europäischen Union sowieso! – unablässig in Gang hält, wie dieses mächtige, große und stolze Bayern jemals Teil der kleinen Bundesrepublik Deutschland werden konnte?

In Vergessenheit geraten ist in München jedenfalls, daß Bayern niemals selbständig war, bis Kurfürst Maximilian IV. Joseph 1806 von Napoleon gemeinsam mit dem Herzog von Württemberg für seine Verdienste in den Rang eines Königs erhoben wurde. Und zwar deshalb, weil der französische Kaiser ähnlich wie de Gaulle Deutschland so sehr liebte, daß er davon gleich mehrere haben wollte. Von da an durfte sich Bayern in voller Souveränität und völlig freiwillig dem Willen Frankreichs und später im Deutschen Bund dem Willen Österreichs und Preußens unterwerfen.

Dem Beitritt Bayerns ins Deutsche Reich Bismarcks 1871 stimmten zwei Abgesandte in den Verhandlungen mit dem Reichskanzler zu, die dazu von ihrem König Ludwig II. nicht autorisiert waren. Aber weil die Bevölkerung dahinterstand und keine andere Möglichkeit blieb, ist es dann – nolens volens – dabei geblieben.

Ein kleines Mißgeschick mit großen Folgen. Für Bayern galt fortan: Mitgefangen, mitgehangen. Das von Bismarck trickreich geschmiedete Reich mußte dreimal untergehen, bevor es als Bundesrepublik seine aktuelle Form fand. Der Traum bayerischer Regierungen von der Unabhängigkeit aber überlebte alle Katastrophen und ließ sich nicht unterkriegen. Heute will Edmund Stoiber endlich wiedergewinnen, was Ludwig II. so leichtfertig aus der Hand gegeben hat. Stoiber will dahin, wo die Musik spielt. Er will mitbestimmen im Konzert der Großen und nicht nur ausführen, was andere beschlossen haben. Er hat zwei Möglichkeiten, sein Ziel zu erreichen: Entweder er wird Bundeskanzler, oder aber der Freistaat Bayern wird selbständig innerhalb der Europäischen Union und bekommt Sitz und Stimme im Ministerrat.

Zur ersten Möglichkeit. Ein bayerischer Kanzler ist in Deutschland so gut wie ausgeschlossen. Nicht nur, weil Franz Josef Strauß 1980 bei seinem Versuch, Kanzler zu werden, verbrannte Erde hinterlassen hat, sondern auch, weil das ungenierte Vertreten bayerischer Interessen durch CSU-Bundesminister (Theo Waigel hat sich immer in schöner Offenheit dazu bekannt) bei den Nichtbayern den tiefsitzenden Eindruck hinterlassen hat, ein bayerischer Bundeskanzler würde im Ernstfall die Interessen seines Bundeslandes womöglich über die Interessen der ganzen Republik stellen. Da geht es der CSU nicht anders als den Grünen, denen die Wähler nach den ideologischen Beschlüssen von Magdeburg nicht so recht abnehmen mögen, sie könnten in Bonn verantwortungsbewußt mitregieren und im Konfliktfall die Realität über die Ideologie stellen.

Bleibt die Frage nach dem Ministerrat und der Rolle Bayerns in der Europäischen Union. Im Kern haben Stoiber und die CSU ja nicht unrecht: Warum dürfen Luxemburg, Belgien, Dänemark und Österreich – um nur einige kleinere Länder zu nennen – in Brüssel ihre Interessen direkt vertreten, Bayern aber nicht, wo es doch zwölf Millionen Einwohner und ein Bruttosozialprodukt hat, das sich wirklich sehen lassen kann.

Eine neue Souveränität Bayerns in Europa von vorneherein als unmöglich – weil undenkbar – abzutun, ist leichtfertig. Wer hat den Zusammenbruch des russischen Imperiums und der jugoslawischen Republik vorhergesehen? Wer mag bestreiten, daß Belgien heute nicht viel mehr als eine geschundene Hülle für zwei Staatsteile plus Brüssel ist? Wer hätte 1988 die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung innerhalb einer Dekade für möglich gehalten? Die Welt ist seit 1989 in einem Ausmaß in Bewegung geraten, das wir immer noch nicht voll begriffen haben. Der Wahlspruch „Nichts ist unmöglich“ gilt heute für die Politik mindestens ebenso stark wie für die neuen technologischen Entwicklungen.

Die klassischen Aufgaben eines Staates werden in Europa bereits heute zu einem großen Teil nicht mehr von den Nationalstaaten erfüllt. Bei der Wirtschaftspolitik ist selbst die EU zur kleinsten denkbaren handlungsfähigen Einheit auf dem globalen Parkett geworden. Für die Verteidigungspolitik gilt: Bayern kann sich mit Sicherheit nicht selbst verteidigen. Aber das kann die Bundesrepublik auch nicht. Die entscheidende Rolle spielt die Nato. Ein Staat braucht eine eigene Währung? Vergangenheit! Steuerhoheit? Wird demnächst in Brüssel neu geregelt und verwaltungstechnisch vom Land Bayern schon immer abgewickelt. Die Sozialpolitik ist das letzte klassische Politikfeld, das Bayern noch fest in die Bundesrepublik einbindet.

Das soll so nicht bleiben. Edmund Stoiber fordert seit längerem immer wieder vehement die Regionalisierung der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung und ist auch bereit, erheblichen Widerstand dagegen innerhalb der CSU niederzukämpfen. Gelingt es ihm, die Regionalisierung der Sozialversicherung auch innerhalb der Bundesrepublik durchzusetzen, ist die bundesdeutsche nationale Einheit nur noch eine Goodwill-Veranstaltung, die jederzeit ohne größere Schmerzen gekündigt werden kann.

Wir Nichtbayern würden dem Edmund die Selbständigkeit von Herzen gönnen. Es wäre eine geradezu elegante Lösung: Ohne die CSU und ihre rückwärtsgewandte Politik ließe sich die Bundesrepublik viel leichter regieren. Und im Europäischen Rat werden die Kollegen den Stoiber schon über die Bedeutung Bayerns aufklären. Daß Stoiber keine zweite Lady Thatcher wird, darauf verwette ich meine bayerische Aufenthaltserlaubnis. Christoph Nick