Die ferne Brücke hängt die Insel ab

Am Sonntag wird die Brücke über den Großen Belt (Dänemark) für den Autoverkehr freigegeben. Die Ostseeinsel Fehmarn verliert ihre Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt auf der „Vogelfluglinie“ und muß sich wandeln  ■ Von Heike Haarhoff

In die Klapsmühle.“ Für Heiko Doebler gibt es keinen Zweifel. „In die Klapsmühle hätten sie dich gesteckt, wenn du den Eisenbahnern hier vor eineinhalb Jahren erzählt hättest, daß unser Bahnhof dichtmacht.“ Er selbst hat es am allerwenigsten geglaubt, jede Wette, ein großes Bier darauf.

Weil man einen Bahnhof doch braucht wie den in Puttgarden, wo im Jahr 180.000 Güterwaggons, 20.000 Reisezugwagen, eine Million Pkw, 260.000 Lkw, 35.000 Busse und sieben Millionen Passagiere ankommen. Weil die Züge, die Autos und die Menschen von hier mit den Fähren der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee (DFO) die zwölf Ostseemeilen über den Fehmarnbelt, die „Vogelfluglinie“, nach Rodby in Dänemark übersetzen.

Was wird nun aus Manni und seinen Kollegen?

Manni Petersen, Beruf Lokführer und 24 von 38 Lebensjahren bei der Bahn, „bis zuletzt in Puttgarden“, kann's auch beschwören, und seine 30 Exkollegen, die heute auf Mannis Einladung zum „einjährigen Wiedersehenstreffen“ bei Faßbier und Grillwürstchen ins Stadtcafé in Burg auf Fehmarn gekommen sind und nun darauf lauern, wann endlich die wenigen „Mädels aus der Schaltzentrale“ eintreffen, können's ebenfalls: Weil „nur ein Spinner“ einen Verkehrsknotenpunkt auflösen würde, der immer nur schwarze Zahlen geschrieben hat. Oder weil sich damals, vor fast einem Jahr, niemand vorstellen konnte, was werden sollte aus dem Lokführer Manni Petersen und dem Rangierarbeiter Heiko Doebler, Jahrgang 1970, und mit ihnen aus knapp tausend Beschäftigten auf den Fähren, im Rangierbahnhof, in den umliegenden Restaurants und Hotels.

„Ein Ding“, das Peter Vollmer, dem ehemaligen Bahnhofschef, noch heute Rätsel aufgibt, egal, ob er nun einen zuviel über den Durst getrunken hat wie an diesem Abend oder nicht. An seinen „Jungs“ jedenfalls, das weiß der 59jährige, so wahr er Pomade im Haar hat, hat es nicht gelegen: „Das waren alles ordentliche Jungs.“

Und dann ist das Unmögliche doch passiert in Puttgarden auf der deutschen Ostseeinsel Fehmarn, damals, in der Nacht auf den 1. Juni 1997. Da hat „der Däne“, erinnert sich Doebler, „seine Brücke aufgemacht“. So ganz stimmt das nicht. Die Großer-Belt-Querung zwischen den dänischen Inseln Fünen und Seeland wurde damals nur für den Zugverkehr freigegeben. Eine acht Kilometer lange Bahn- und Betontrasse zum winzigen Eiland Sprogö und der anschließende genauso lange Eisenbahntunnel unter der Ostsee nach Seeland.

Aber das reichte: Prompt wurden sämtliche Güterverkehre, „die Apfelsinenkisten aus Spanien“, sagt Vollmer, „eben alles“ nach Skandinavien statt wie bisher via Puttgarden über den Großen Belt abgewickelt. „Ein Umweg von mehr als 160 Kilometern, der sich trotzdem rechnet, weil unsere zeit- und kostenaufwendigen Rangierarbeiten wegfallen“, der Bahn- Betriebsrat Peter Heinecke klingt bitter. Und der Wegfall der Güterverkehre war nur der Auftakt: Ab Sonntag steht die Großer-Belt- Autobahn auch dem Lkw-Verkehr offen. Stolz zieht sich „die Brücke“ über die Meeresenge, sieben Kilometer lang, bis zu 72 Meter hoch, gekrönt von einer Hängebrücke mit 1.642 Meter Spannweite über dem Fahrwasser der Frachter und Fähren.

Die dänische Regierung, die 4,7 Milliarden Mark verbaut hat, rechnet mit einem Verkehrsaufkommen, das fünfmal so hoch ist wie das, das über die Vogelfluglinie abgewickelt wurde. Und Fehmarns parteiloser Bürgermeister Klaus Tscheuschner weiß: „Die Auswirkungen kriegen wir erst in ein paar Jahren zu spüren, wenn die Leute abwandern.“ Wird es dann noch Bedarf für das Krankenhaus geben, das Gymnasium?

Fehmarn hat keine großen beruflichen Perspektiven zu bieten, außer, keine Frage, den Tourismus: 500.000 Übernachtungsgäste jährlich suchen die 16.000 Fehmeraner heim. Sie richten sich auf den 38 Insel-Campingplätzen ein, flitzen über die surftechnisch paradiesischen Wellen, machen ihre Kinder auf den Wiesen hinter backsteinroten Bauernhöfen mit echten Kühen und Schafen bekannt. „Wissen Sie“, sinniert Betriebsrat Heinecke, „eine Brücke kennt auch keinen Streik. Da brauchen Sie keine Fährschiffer, die die Züge und Autos sicher ans andere Ufer bringen.“ Aber genaugenommen wollte auch gar keiner streiken. „Die Fährschiffer und wir“, sagt Heiko Doebler, „haben's doch zuletzt erfahren, als politisch alles schon entschieden war, was willste da noch machen?“

Zum Beispiel die letzten Tage blau machen oder das Ganze mit Galgenhumor nehmen. Das Ende der Vogelfluglinie dokumentieren private Fotos, eine ganze Serie fröhlicher Farbaufnahmen, lachende Männer in Arbeitskleidung, die den „TEEM 40747“, den letzten Güterzug, der Ende Mai 1997 über die Bahngleise von Puttgarden gerollt ist, tätscheln. So ungelenk, wie so oft Männer langjährige Bekannte verabschieden, die ihnen ans Herz gewachsen sind.

Also kein Streik. Auch dann nicht, als der DFO-Chef in Puttgarden kürzlich verkündete, daß die Fährflotte von sieben auf vier Schiffe abgespeckt werde, die dafür schneller und mit der Hälfte des Personals führen, 200 Mann auf einen Streich.

Das Häuschen in Puttgarden verkauft

Im Stadtcafé steigt die Stimmung mit dem Bierkonsum. Manni mag die Fotos gar nicht mehr aus der Hand geben. „Puttgarden, das war kein Bahnhof, das war ein Stammtisch.“ Und, „Mensch, der Prellwitz, alter Schwede, der war ja auch dabei! Und Heiner!“ Wo zum Teufel sind die beiden wohl heute abend? Was denn, der Heiner, im Vorruhestand? Ist der denn nicht erst 55? Und den Prellwitz, den hat lange keiner mehr gesehen, seit er nach Lübeck versetzt wurde: 88 Kilometer morgens hin zur neuen Arbeitsstelle, 88 Kilometer abends zurück nach Fehmarn, „da haste keine Zeit mehr zum Ausgehen“. Das weiß Manni nur zu gut.

„Durch die Fahrerei hast du zu Hause doch nur noch Streit gehabt.“ Er nimmt einen großen Schluck Bier. Jetzt hat er in Lübeck, wohin auch er sozialverplant wurde, ein Zimmer für die Zeiten, in denen seine Freundin den stressigen Schichtwechsel nicht mehr erträgt. Aber ganz wegziehen von der Insel? Manni guckt, als habe das Dänische Königreich im Zuge des gigantischen Brückenbaus auch noch den Ausnahmezustand über die Ostsee verhängt. Worte findet der Lokalschef vom Fehmarnschen Tageblatt: „Der Fehmeraner“, so seine Analyse, „ist erdverwachsen.“ Jedenfalls, solange er kann.

Benno Markmann konnte nicht mehr. Der Familienvater hat sein Haus in Puttgarden verkauft und zieht jetzt weg „vom sechsten Kontinent“, wie die Fehmeraner über Jahre ihre Insel bezeichneten, „aufs Festland“ in die Kreisstadt Eutin. „Das gefällt meinen Kindern nicht, aber der Große ist 15, der braucht 'ne Lehrstelle.“ Und wieder ist „die Brücke“ schuld.

Während die Richtung Belt- brücke führende Bahnstrecke Hamburg–Flensburg für 250 Millionen Mark elektrifiziert wurde, rattern zwischen Hamburg und der Inselhauptstadt Burg weiterhin die unattraktiveren Dieselloks. Damals, 1985, als Heiko Doebler einen Ausbildungsplatz suchte, „da war die Bahn das Beste, was du auf Fehmarn kriegen konntest, ein ganzjähriger Job“. Heute ist das riesige Schienenareal hinter dem Hafen – 1963 erst in Betrieb genommen – verwaist, Tauben nisten über dem Bahnsteigschild „Puttgarden“, ganze fünf Intercitys pro Tag setzen noch Richtung Kopenhagen über.

Bahnhofschef Vollmer mochte diesen Anblick, „wie alles vergammelt“, nicht mehr ertragen. Sein Haus in Puttgarden hat er verkauft, jetzt wohnt er in einer Neubausiedlung in Burg. Einen prominenten Platz im Wohnzimmer nimmt der Glaskrug mit der eingeschliffenen Eisenbahn ein, den er noch von der Bahn bekommen hat. Heiko Doebler hat den Absprung geschafft: „Es gibt eben keine krisensicheren Jobs mehr, selbst der Kohl muß in diesem Herbst gehen.“ 40.000 Mark Abfindung hat die Bahn Doebler überwiesen, jetzt jobbt der 28jährige viermal die Woche in der „BierBar Residenz“, „wo wir“, sagt er und meint die Einheimischen, „sowieso immer hingehen“. Wo man den Wodka in Flaschen bestellt und es zur happy hour fünf Cola-Rum für einen Zehner gibt. Weswegen sich in der BierBar Residenz niemand wundert, daß vor vier Gästen an der Theke 20 Gläser „Mixgetränke“ sich drängen. Heiko Doebler rangiert dann mit Bierdeckeln und fühlt sich wohl.

Der „Fehmarn-Park“ als „Brücke zur Zukunft“

Weil er „Glück“ hatte, sagt Olaf Grell. Nein, neidisch ist er auf den gleichaltrigen Exkollegen nicht. Aber daß er, Grell, den die Bahn wegen seiner Hüftarthrose aufs Abstellgleis schob, jetzt „nicht mal eine Umschulung bezahlt“ bekommt, weil er „ja Abfindung“ erhalten habe, das findet er schon „spaßig“.

In seinem Amtszimmer im Herzen von Burg hört sich Bürgermeister Tscheuschner all die Sorgen an. Vor drei Jahren erst ist er, der Krankheit seiner Kinder wegen, aus dem luftverschmutzten Nordrhein-Westfalen auf die heilende Ostseeinsel gekommen. Tscheuschner kennt die Probleme von Regionen im Wandel. „Ach“, seufzt er, „wir müssen versuchen, andere Arbeitsplätze zu schaffen.“ Zum Beispiel im alternativen Energiesektor. Noch mehr Windräder für Fehmarn, Zukunftstechnologie, Solarfahrzeuge und Niedrigenergiehäuser fördern, in der Mitte der Insel als „Wahrzeichen“ eine „Himmelsleiter mit Solarzeppelin“ aufbauen und das Ganze gut vermarkten, diese Pläne sind „zu meinem Hobby geworden“. Der Name des „Hobbys“ steht schon fest: „Fehmarn-Park, Brücke zur Zukunft“.