■ Wenn in Deutschland über Kindervisa, doppelte Staatsbürgerschaft oder Flüchtlinge debattiert wird, fehlt eine Stimme: die der Migranten
: Arme Opfer, sprachlose Minderheit

Alle paar Monate diskutiert sich die Gemeinschaft deutscher Intellektueller, Feuilletonisten und Leserbriefschreiber über das „Ausländerthema“ die Köpfe heiß. Kontrovers setzt man sich auseinander über volle Boote, Flüchtlinge, Gewalt gegen und von „Ausländern“, das richtige Benehmen von „Gästen“, Kindervisa, Fundamentalismus oder doppelte Staatsbürgerschaften. Gewöhnlich sind jedoch in diesen Gesprächen die Rollen schon vorher verteilt – was die Konservativen und die Liberalen sagen werden, läßt sich oft mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen. Zudem fällt auf – und trägt zu der Langeweile des Themas bei –, daß eine Rolle eklatant unterbesetzt ist. Denn am öffentlichen Gespräch über „Ausländer“ nehmen Migranten kaum teil.

Im Gegensatz zu den meisten anderen westlichen Ländern gibt es in Deutschland fast keine Intellektuellen oder Feuilletonisten nichthegemonialer Herkunft. Warum wundert sich eigentlich niemand darüber? Zunächst ist die Situation für die Einheimischen wohl einfach eminent bequem. Was die Wirklichkeit und die Probleme einer Einwanderungsgesellschaft betrifft, so kommt es bekanntlich ganz entscheidend darauf an, wer diese definiert. Die Realitätsdefinitionen von Eingeborenen und Migranten können dabei ganz erheblich voneinander abweichen. Vielleicht würde das allgemeine Selbstbild der Einheimischen – sie seien im Grunde „ausländerfreundlich“ und tolerant – bedenklich ins Wanken kommen, wenn in der Öffentlichkeit ständig die Erfahrungen jener präsent wären, die fast 40 Jahre nach ihrer Ankunft immer noch „Bürger zweiter Klasse“ sind. Wenn man das Gespräch jedoch vor allem „unter sich“ führt, dann kann die Diskussion relativ ungestört um den eigenen Konfliktplan kreisen. Und das tut sie viel zu oft auch – gewöhnlich sind es die „Ausländer“, die Probleme haben, die zu viele, zu rückständig, zu religiös, zu undemokratisch, zu kriminell sind.

In der gesellschaftlichen Diskussion kommen Migranten als Subjekte nicht vor: Entweder gelten sie als arme Opfer oder als sprachlose Minderheit, deren Anliegen von den Einheimischen vertreten werden müssen. Im schlimmsten Fall werden sie als „gefährliche Typen“ betrachtet. Dann spricht man allerdings manchmal sogar mit ihnen – etwa so wie „Extremismus“-Forscher Wilhelm Heitmeyer, der mit suggestiven Fragen in die Fremde im eigenen Land reist, um prophylaktisch nachzusehen, welche Probleme diese „Ausländer“ denn in Zukunft noch machen werden.

Allerdings kann man die Migrantenintellektuellen auch nicht einfach aus dem Hut zaubern. Tatsächlich scheint es bei Migranten in Deutschland insgesamt an Artikulation zu mangeln – nicht nur politisch, sondern auch kulturell. In Frankreich gibt es seit den 70er Jahren auch das französische Migrantenkino, das, wie man gerade wieder montags auf arte verfolgen konnte, eine aufregende Angelegenheit ist. Ebenso die Literatur. Ähnliches trifft auf Großbritannien zu. Dort gibt es zudem eine ganze Reihe von engagierten Kulturkritikern an den Universitäten, die immer wieder hochinteressante Diskussionen anzetteln. In der Bundesrepublik dagegen entdeckt man weiterhin oft kaum mehr als die mitleiderregende „Gastarbeiterliteratur“, „Ausländer“-Problem-Pflichtkino, Zwischen-zwei-Kulturen-Theater und ein „Zentrum für Türkeistudien“, dessen Direktor Faruk Șen seine Zeit hauptsächlich damit zu verbringen scheint, mit der Hilfe von Statistiken zu beweisen, daß auch die deutschen Türken kräftig zum Bruttosozialprodukt beitragen.

Gewiß hat die Migration in Frankreich und Großbritannien eine andere Geschichte. Oft verband die Migranten mit ihrem Einwanderungsland bereits die Geschichte des Kolonialismus. Sie beherrschten bei der Ankunft die Sprache und waren auf eine komplizierte Weise Bestandteile der französischen oder britischen Identität. „Ich bin Franzose“, betonte Frantz Fanon noch in seinem Buch „Schwarze Haut, weiße Masken“. In „Ich kam nach Hause“, schrieb etwa der aus der Karibik stammende britische Kulturtheoretiker Stuart Hall über seine Migrationserfahrung: „Ich bin der Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse.“

Aufgrund dieser historischen Überschneidungen erhielten die Einwanderer auch relativ schnell die Staatsbürgerschaft. In Deutschland dagegen war es den Migranten wegen des ius sanguinis nur in den wenigsten Fällen möglich, Deutsche zu werden. Noch heute tut man sich schwer, in den Einwanderern mehr als „Gäste“ der deutschen Blutsgemeinschaft zu sehen. Selbst in der taz ist mehr oder weniger selbstverständlich noch immer von „Ausländern“ die Rede. Die Verweigerung der Staatsbürgerschaft hat jedoch – und das merkt man nicht, wenn man sie ganz selbstverständlich besitzt – weitreichende Konsequenzen für das Leben in einem Gemeinwesen. Denn ohne Mitgliedschaft wird man sich selbstverständlich auch nicht am öffentlichen Gespräch beteiligen.

Entsprechend blieb der Großteil der Migranten entweder unpolitisch oder auf das politische Spektrum des „Heimatlandes“ bezogen. Oft rückte man einfach nur zusammen und pflegte nach Ethnien getrennt eine als authentisch verstandene Kultur. Im Vordergrund stand in den meisten Fällen ohnehin das Geldverdienen. Die späteren Generationen bauten gezwungenermaßen auf dieser Situation auf. Insofern findet, wie sich etwa an den islamistischen Vereinen zeigt, eine politische Einmischung häufig als undemokratische Politisierung von Ethnizität statt. Und die Aufstiegsaspirationen der gebildeteren jüngeren Migranten führen schließlich in den seltensten Fällen zu politischem Engagement. Um nach oben zu kommen, werden sie lieber Ingenieure, Juristen oder Betriebswirtschaftler.

Um etwas in Bewegung zu bringen, sollte vor allem die Ethnizität aus der Politik herausgehalten werden. So wird es eine einigermaßen gleichberechtigte Teilnahme der Migranten am demokratischen Gespräch, eine Möglichkeit, eigene Probleme auf die Tagesordnung zu setzen, nur dann geben, wenn das ius sanguinis endlich verschwindet. Für die Migranten schließlich muß es darum gehen, die ethnische Vereinzelung zu überwinden und eine gemeinsame „Identität in der Situation“ zu finden. Also sich nicht mehr als Türken, Griechen, Serben oder Kroaten etc. zu verstehen, sondern als deutsche „Bastardkinder“ oder „Kanaken“, die ihre Interessen selbst in die Hand nehmen. Mark Terkessidis