■ Studentenproteste: Die 97er werden scheitern, wenn sie nicht lernen, auf der Klaviatur der Parteiendemokratie zu spielen: Rein in die Parteien
: Havin' a party

Nun geht es auf Weihnachten zu. Die Studenten ziehen weiter mit ihren Transparenten durch den Schneeregen und prangern die Verheerungen im bundesdeutschen Bildungswesen an. Phantasievoll und unideologisch seien sie, heißt es, tragen Nikolausmützen und wollen das Grundgesetz nicht umstürzen. Allseitiges Wohlwollen ist ihnen gewiß. Der Kanzler bekundet seine „Sympathie und Unterstützung“. Rot-grüne Staatssekretäre mit grauen Haaren sondieren in Vollversammlungen die Lage und atmen erleichtert auf: Von dieser braven Generation haben sie nichts zu befürchten. Natürlich würden sie schrecklich gerne helfen. Allein: Die Zeiten sind hart, die Mittel knapp, schuld ist Bonn, der Eurofighter, notfalls die Globalisierung. Ändern läßt sich jedenfalls nichts.

Das Schlimme ist: Ihr Kalkül geht auf. Nicht, daß sich die Verhältnisse in den Hochschulen und der Republik für alle Zeit als unreformierbar erweisen müßten; die Debatte um die politische Gestaltbarkeit des Gemeinwesens in Zeiten immer knapperer Kassen hat ja noch gar nicht richtig begonnen. Aber genau hier liegt eben das Versäumnis, ja die Naivität der 97er, an welcher der studentische Winter des Mißvergnügens 1998 ruhmlos scheitern dürfte.

Als abgezockte Veteranen von 1968, der hochpolarisierten politischen Kämpfe der siebziger Jahre quer durch alle Parteien und Institutionen, der organisierten Schlachten an den Bauzäunen und Startbahnen Anfang der Achtziger, haben die heutigen Minister und Mandatsträger schnell begriffen, daß sie diesen Aufstand ganz einfach aussitzen können. Wer sich die martialischen Fronterinnerungen jener abgehärteten Krieger anhört, gleichgültig auf welcher Seite sie in jenen Tagen gestanden haben mögen, der begreift schnell, weshalb die Arglosigkeit der aktuellen Studentengeneration sie so wenig beeindruckt. Härter, unversöhnlicher ging es zu ihrer Zeit zur Sache, machiavellistisch verfolgte man die eigenen Interessen. Es gab nur Schwarz und Weiß, Freund und Feind.

Eine schöne, einfache Welt war das, und einerseits tun die 97er nur gut daran, es sich nicht so leichtzumachen. Tatsächlich sind ja die Professoren nicht von vornherein ihre Gegner, auch „die Politiker“ sind es zunächst einmal nicht, erst recht nicht „das System“. Die Dinge sind komplizierter. Das Fatale an dieser Einsicht ist, daß sie handlungsunfähig macht. In den langen Jahren der Ära Kohl hat sie zugleich als Vorwand für politische Abstinenz gedient. Jetzt käme es darauf an, kühl kalkulierend zu agieren, doch jetzt fehlt den 97ern die strategisch-operative Kompetenz, um die mit allen Wassern der Kader-, Gremien- und Parteipolitik gewaschenen 68er ernsthaft in Bedrängnis zu bringen.

Nicht so sehr der Umstand, daß ihnen ökonomisches Drohpotential abgeht, ist das Problem der protestierenden Studenten – drohen können die hochsubventionierten Kohlekumpel von der Ruhr im Grunde auch nicht, die dennoch bei Gelegenheit mit ihren Harley-Davidsons erfolgreich das Bonner Regierungsviertel unsicher machen. Die Schwäche der 97er liegt vielmehr darin, daß sie davor zurückschrecken, mit vergleichbarer Unerbittlichkeit für ihr Anliegen einzutreten, gezielt und hartnäckig zuzuschlagen, wo sie tatsächlich mediale und politische Wirkung erzielen konnten.

Auf dem SPD-Parteitag in Hannover etwa hätte die Möglichkeit dazu bestanden. Parteitage sind heute Medieninszenierungen, von deren Makellosigkeit – jedenfalls aus Sicht der Parteien selbst – fast alles abhängt. Kaum etwas ängstigt Parteimanager mehr als unvorteilhafte Fernsehbilder von diesen Schauveranstaltungen. In Hannover waren zwar einige Dutzend Studenten in der Tagungshalle, die zu Beginn der Rede Oskar Lafontaines auch lautstark auf sich aufmerksam machten. Allein das „Angebot“ des Parteivorsitzenden, später einen Studentenvertreter zu den Delegierten sprechen zu lassen, reichte dann aber schon zu ihrer Besänftigung. Die Rede war gerettet.

Weit wichtiger für den Erfolg der 97er als medienwirksam-subversive Einzelaktionen wird langfristig allerdings sein, ob sie bereit sind, sich überhaupt auf das schwierige Geschäft der Politik einzulassen. Es ist schon so, wie der Kanzler sagt: Die protestierenden Studenten von 1997 wollen dieses Gemeinwesen nicht abschaffen. Um so wichtiger wäre es, daß sie dessen Mechanismen und Institutionen von innen her reformieren.

Mehr Geld zu fordern und den Hochschulzugang für alle, dabei aber zugleich sämtliche Modelle von Studiengebühren und Strukturreformen kurzerhand abzulehnen – das allein unterscheidet sich qualitativ nicht nennenswert von der Status-quo-Beharrung der Kohlekumpel. Insofern konkurrieren die Studenten gegenwärtig als bloße Lobbygruppe im pluralistischen Wettbewerb mit anderen um immer knappere staatliche Mittel. Das allein ist keine Politik, sondern Klientelismus – erfolgloser noch dazu.

Langfristig aussichtsreich wären die 97er daher nur, wenn sie sich diese parteiferne Generation zur ultimativen Subversion entschlösse: zum scharenweisen Eintritt in die Parteien. Der Effekt wäre immens. Ob bei der SPD oder CDU, erst recht bei den Grünen und der FDP: Fast überall pfeifen die Parteien auf dem letzten Loch, sind personell ausgetrocknet und überaltert. Bei keiner einzigen der im Bundestag vertretenen Parteien sind mehr als fünf Prozent der Mitglieder jünger als 25 Jahre. Schon die Teilnehmerzahl eines überfüllten Proseminars würde genügen, in ganzen Ortsvereinen und Kreisverbänden (im Falle der FDP selbst in kompletten Landesverbänden) innerhalb kürzester Zeit die Mehrheiten zu „kippen“, neue Vorstände zu wählen und andere Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Mit nichts anderem ließe sich in einem Wahljahr so große Wirkung erzielen.

Und was zunächst wie Klamauk wirken mag, könnte doch zugleich der Anfang von Politik sein. Das Verteilen von „Studienplätzchen“ in vorweihnachtlichen Fußgängerzonen, die immer neuen Protestumzüge, ja selbst die Besetzung von Parteibüros – das alles wird jedenfalls folgenfrei bleiben. Nur wenn die 97er begreifen, daß sie ihre Anliegen an niemand anderen delegieren können, schon gar nicht an die arrivierten 68er, können sie politisch wirksam werden. Und erst wenn die verfassungstreuen Kinder der Demokratie lernen, das bereitstehende demokratische Instrumentarium in ihrem Sinne zu nutzen, werden sie die Hebel an der richtigen Stelle ansetzen. Tobias Dürr