Auf den Knast folgt für Serdar die Verbannung

Ein junger Türke soll abgeschoben werden, weil er länger im Gefängnis saß, als das neue Ausländergesetz erlaubt  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Die unsichtbare Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit verläuft quer über Zehra Akins Kreuzberger Wohnzimmertisch. Links an der Wand hängen die jüngsten Urlaubsmitbringsel – röhrende Hirsche, schneebezuckerte Bergspitzen vor blitzblauem Himmel – all die schönen Scheußlichkeiten, die man aus den Ferien in deutschen Landen eben mitbringen kann. Die rechte Zimmerhälfte ist der Türkei vorbehalten. Ein glitzernder Wandteppich mit einer Moschee, Nippes in allen möglichen Farben – liebgewonnene Erinnerungsstücke an eine Heimat, die Zehra Akin vor dreißig Jahren verlassen hat.

Auf der unsichtbaren Grenze in der Mitte des Tisches liegt das letzte Urlaubsfoto aus der Türkei. Zehra mit ihrer Nichte und dem scheu in die Kamera blinzelnden Sohn Serdar. Elf Jahre ist das her, seitdem waren die Akins in Österreich, in Italien und auf Mallorca, aber nie wieder in der Türkei.

Auf dem Urlaubsfoto ist Serdar noch ein Kind. Heute ist er dreiundzwanzig und sitzt hinter Gittern. Dort hat er vor ein paar Tagen, erzählt seine Schwester Güley, „wieder an sich herumgeschnippelt“. Serdar hält es nicht aus im Knast. Er tut sich selbst Gewalt an, ritzt sich Wunden in den Körper, man hat ihn auf die psychiatrisch-neurologische Abteilung des Gefängnisses gebracht. Dort bekommt er Tabletten. Serdar hat Depressionen, vor allem aber hat er Angst.

Die Angst kam mit einem amtlichen Schreiben von der Ausländerbehörde. Unter der Überschrift „Ausweisungsbescheid“ wurde Serdars bevorstehende Verbannung angekündigt. Der Dreiundzwanzigjährige wird eines der vielen Opfer einer am 1. November stillschweigend in Kraft getretenen Verschärfung des Ausländergesetzes werden. Wenn er demnächst Zweidrittel seiner Haftstrafe verbüßt hat, wird man ihn nicht wie seine deutschen Mitgefangenen in die Freiheit entlassen. Serdar wird in die Türkei ausgewiesen, in ein Land, dessen Sprache er weder richtig lesen noch schreiben kann, in dem er niemanden kennt und an das er weniger Erinnerungen hat als an den letzten Italienurlaub. „Die Türkei“, schreibt Serdar Akin aus dem Gefängnis, „ist nicht mein Herkunftsland. Ich bin nicht nur in Berlin geboren, sondern wurde auch hier gezeugt.“

In Deutschland hat Serdar sein gesamtes bisheriges Leben verbracht, und hier wurde er auch kriminell. „Meine beiden Töchter“, sagt Zehra Akin, „sind völlig in Ordnung“ – eine ist Raumausstatterin, die andere Sozialpädagogin, beide sind längst deutsche Staatsbürgerinnen – „aber der Sohn ist mir entglitten.“ Nächtelang quält Frau Akin sich mit Selbstvorwürfen, „was habe ich nur falsch gemacht?“ aber eigentlich weiß sie, daß sie zu etwas anderem keine Kraft gehabt hätte.

Fünf Kinder hat Zehra Akin großgezogen, drei eigene und die beiden Kleinen ihres Bruders. Die Kinder waren noch klein, als sie sich von ihrem Mann trennte, jahrelang hatte er sie terrorisiert. Er verfolgte sie noch, als sie mit den Kindern längst ins Frauenhaus geflüchtet war.

Die Angst, der Vater könnte sie aufspüren, lastete auch auf den Kindern. Serdar kam damit am wenigsten klar, und seine Mutter war zu sehr mit dem alltäglichen Überlebenskampf beschäftigt, um ihm zu helfen. Der Sohn war aufbrausend, fing an zu klauen, erst Geld aus dem Portemonnaie der Mutter, dann all die Dinge, mit denen man sich vor den Freunden wichtig machen kann.

Serdar glitt in eine gar nicht so unübliche Kreuzberger Jugendkarriere ab, nur soll die in seinem Fall in der Türkei enden. Mit dreizehn kam er ins Heim, zwischendrin auch mal in den Jugendarrest. Er lebte in Jugendwohngemeinschaften und manchmal auch nirgends, zuletzt war er wieder bei seiner Mutter untergekommen.

Nein, daß ihr Sohn drogenabhängig war, davon will Zehra Akin nichts gewußt haben, aber irgendwann geschah, wofür auch sie keine Entschuldigung weiß: In der Wohnung eines Kumpels kommt es zum Streit, Serdar schlägt ihm mit einem Topf auf den Kopf und bestiehlt ihn danach. Das Landgericht verurteilte ihn wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren.

Dreieinhalb Jahre – damit war eine Schallgrenze überschritten. Denn nach dem neuen Ausländergesetz stellt ein Ausländer, der zu einer mehr als dreijährigen Haftstrafe verurteilt ist, eine Gefährdung der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ dar. Er wird in sein Herkunftsland ausgewiesen. Bisher lag die Grenze bei einer fünfjährigen Haftstrafe, und für Jugendliche, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind, galt ein besonderer Ausweisungsschutz. Die Behörden hatten nach eigenem Ermessen zu prüfen, ob der Haftentlassene wirklich ein „Risiko für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ ist.

„So weh es einer Mutter auch tut“, sagt Zehra Akin, „auch in meinen Augen verbüßt mein Sohn zu Recht seine Strafe. Aber warum muß es noch eine zweite sein? Serdar braucht eine Therapie, in der Türkei hat er nichts, keine Wohnung, keine Freunde, die ganze Familie – sämtliche Verwandten werden es eidesstattlich bezeugen – lebt doch in Deutschland.“

Schwester Güley drückt es drastischer aus: „Serdar geht dort kaputt.“ Die Schwester kämpft um ihren Bruder. Bisher ohne Erfolg. Auf den mehrseitigen Widerspruch gegen den Ausweisungsbescheid antwortete die Ausländerbehörde mit einem einzigen Satz: „Der Widerspruch wird zurückgewiesen.“ Der Petitionsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses brauchte für dieselbe Entscheidung immerhin zwei Seiten. Nachdem Zehra Akin dort „um Gnade“ für ihren Sohn gefleht hatte, kam ein Brief zurück: Der Ausweisungsbescheid gegen ihren Sohn sei „nicht zu beanstanden“, „bei allem Verständnis für Ihre Gefühle als Mutter“ müsse man ihr leider mitteilen, daß Serdar nach Verbüßung der Haft „unverzüglich“ ausreisen muß.