Luxus bleibt in den Palästen

Oppositionelle Gewerkschaften Argentiniens bliesen zum Streik. Trotz günstiger Wirtschaftsdaten geht es vielen immer schlechter  ■ Aus Buenos Aires Ingo Malcher

Am Morgen blieben die meisten Busse in den Garagen. Die beiden oppositionellen Gewerkschaften MTA und CTA hatten die Argentinier zum Generalstreik aufgerufen. Doch starke Resonanz, so schien es am Vormittag, hatte der Protest gegen Arbeitslosigkeit und das neoliberale Wirtschaftsmodell der Regierung nicht.

Dabei steht die argentinische Wirtschaft auf den ersten Blick gut da. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist bei knapp 300 Milliarden Dollar angekommen, das sind 8.400 Dollar pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: In Griechenland sind es nur 700 Dollar weniger. Die Investitionen steigen, und nach Angaben des staatlichen Statistikinstituts ist auch die Arbeitslosigkeit von 17,1 auf 16,1 Prozent gesunken.

Doch Andrés Pérez' Erfahrungen decken sich nicht mit den positiven Meldungen. In die neuen glitzernden Shopping-Center, die in Buenos Aires wie Pilze aus dem Boden sprießen, geht er höchstens zum Gucken. Mit seinen 200 Pesos – das sind 200 Dollar – im Monat als Kindergärtner kommt er nicht allzuweit. Daher legt er Donnerstag, Freitag und Samstag nachts in einer Diskothek Platten auf. Das bedeutet in Buenos Aires: von ein Uhr nachts bis sieben Uhr morgens. Pro Abend sackt er je nach Andrang noch mal 100 Dollar ein, dafür braucht er auch bis Mittwoch, ehe er sich von den Strapazen des Wochenendes erholt hat. „Aber ohne das zusätzliche Geld komme ich nicht über die Runden, doch es ist auch Spaß“, meint er.

Bei Preisen wie in Berlin und Hamburg reicht der Verdienst von Andrés Pérez immer noch nicht aus, und darum sucht er noch einen dritten Nebenjob. „Kellner, Telefonist oder was auch immer, es ist egal“, meint er genervt. Was Andrés verdient, ist in etwa das Durchschnittseinkommen des Landes, das sich um die 400 Dollar bewegt.

Tatsächlich müssen zu den zwei Millionen Arbeitslosen Argentiniens noch einmal 1,7 Millionen Unterbeschäftigte hinzuaddiert werden. Der leichte Rückgang der Arbeitslosenrate bedeute in Zahlen fast 518.000 neue Jobs, errechnete die Deutsch-Argentinische Industrie- und Handelskammer. Doch real sind viele der neuen Arbeitsplätze schlechtbezahlte und nur vorübergehende Anstellungen. Insgesamt 35,9 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung Argentiniens arbeiten in mehreren Jobs, um über die Runden zu kommen.

Marcela Godio ist Englischlehrerin an insgesamt vier Schulen. In ihrer Handtasche trägt sie immer eine Packung Aspirin mit sich, „weil sie es manchmal nicht mehr aushält“. Ihr Tag geht von morgens um sieben bis abends um sieben oder acht, je nachdem, ob sie noch privat Nachhilfestunden gibt. Den ganzen Tag über ist sie von der einen zur anderen Schule mit dem Bus unterwegs. Pro Schule bekommt sie etwa 250 Dollar im Monat ausbezahlt. 400 davon gehen schon für ihre winzige Zweizimmerwohnung mit Blick auf das Nachbarhaus drauf.

Das neoliberale Modell der Regierung von Präsident Carlos Menem hat es nicht geschafft, die Reichtumsverteilung sozialer zu gestalten. Immer mehr bettelnde Kinder in weißen Schuluniformen, die an Zahnarztkittel erinnern, ziehen durch die Straßen von Buenos Aires. Nachts durchwühlen die Bewohner der Armensiedlungen die Abfalleimer in den besseren Vierteln, bevor die Müllabfuhr kommt. Später verkaufen sie das gefundene Glas und Metall.

Auch der informelle Sektor nimmt spürbar zu. Im Zentrum von Buenos Aires steht gegenüber fast jeder Telefonzelle ein Händler, der Telefonkarten verkauft, und in den Bussen ist vom Schraubenzieher über Batterien bis zu Speiseöl alles zu erwerben. „In Argentinien geschieht, was in vielen anderen neoliberalen Ländern passiert: Trotz eines hervorragenden Wirtschaftswachstums können nur zehn Prozent der Bevölkerung sich an den Früchten des Wachstums erfreuen. Die restlichen 90 Prozent befinden sich in einer schlechteren Situation, mit immer weniger Perspektiven“, beschreibt der Politikwissenschaftler Atilio Borón das argentinische Modell.

Der feste Wechselkurs zwischen argentinischem Peso und US-Dollar machte zwar der trabenden Inflation den Garaus, beschert allerdings regelmäßig eine negative Handelsbilanz. So hat sich das Defizit im Mai dieses Jahres um weitere 185 Millionen Dollar erhöht und ist mittlerweile für die ersten fünf Monate des laufenden Jahres bei einem Stand von 1.179 Millionen Dollar angelangt. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres hatte Argentinien noch eine Handelsbilanz mit schwarzen Zahlen. Zwar sind die Ausfuhren im Vergleich zum Vormonat um 12,1 Prozent gestiegen, allerdings kletterten die Einfuhren um 31 Prozent.

Um das Ruder in der Wirtschaftspolitik herumzureißen, schlägt Borón vor, „wieder einige staatliche Regulationsmechanismen zu schaffen“. Denn Märkte in Lateinamerika funktionierten sehr schlecht und seien niemals Wettbewerbsmärkte. Statt dessen würden sie von Oligopolen dominiert und seien durch entsprechend hohe Preise gekennzeichnet. „Diese Märkte schaffen immer größer werdende Ungleichheiten, die in einer Demokratie nicht tolerierbar sind“, so Boróns Fazit.