■ Welche Art von Modernität wollen die Linken den konservativen Modernisierern entgegensetzen?
: Konservative Linke im Reformstau

Ein Begriff für die Malaise ist gefunden. „Reformstau“, tönt es aus allen Ecken der Republik, und in den konservativen Parteien wurde auch schon erkannt, wo die Wurzel des Übels steckt: im Beharrungsvermögen der deutschen Gesellschaft, das jeglichen Reformwillen lähmt, im Strukturkonservativismus der politischen Klasse, in der Zählebigkeit traditioneller linker Konzeptionen von sozialer Sicherheit, der blinden Verteidigung von Arbeitsplätzen und tariflicher Regelung, der hinterwäldlerischen Skepsis gegenüber neuen Technologien. Ausgerechnet der nachhaltige Einfluß traditioneller linker Positionen entpuppt sich in dieser Weltsicht als Blockade überfälliger Reformen.

Alles Quatsch, könnte man einwenden, die Regierungsparteien haben den Reformstau selbst produziert und echte gesellschaftliche Reformen, wie den ökologischen Umbau, verhindert. Aber so einfach ist es nicht. Sind es nicht tatsächlich die Linken, die aus ihrer Verteidigungs- und Abwehrhaltung nicht herauskommen? Sind sie nicht längst zu Bewahrern des Bestehenden mutiert: kein Abbau des Sozialstaates, keine Weiterentwicklung der Gentechnologie, keine Streichung von Subventionen, wenn es Arbeitsplätze gefährdet, keine weitere Liberalisierung der Ökonomie?

Am Ende des 20. Jahrhunderts erscheinen die Linken als die wahren Konservativen – eine merkwürdige Drehung der Geschichte. Man kann von den neoliberalen Reformprojekten halten, was man will – sie offenbaren auch den Mangel an Modernität und gesellschaftlicher Perspektive bei ihren Gegnern.

Ein bißchen konservativ waren die Linken ja schon immer, ohne daß es ihnen geschadet hätte. Die kreative Mischung aus politisch linken und lebenspraktisch konservativen Zutaten gehörte stets zu den besonderen Reizen der verschiedensten linken Strömungen. Kritik der Verhältnisse und Verteidigung natürlicher Lebensgrundlagen; subversives Engagement und Pflege von Kiezkultur und Nachbarschaftshilfe; Weltrevolution und romantische Verklärung indigener Kulturen plus traditionelle Anbaumethoden.

Aber heute hat sich etwas Entscheidendes verändert. Die Linken unserer Tage sind politisch konservativ und in ihrer Lebenspraxis zynisch geworden. Sie verteidigen bestehende staatliche Institutionen und die nationale Regulierung der Ökonomie, sie reden von Verlangsamung und sozialer Sicherheit. Doch sie selbst lassen es sich nicht nehmen, ihre Konsumgewohnheiten global auszurichten, einer überdurchschnittlichen Mobilität und Reiselust zu frönen und dabei so pfiffig wie möglich ihre Einkommen am Staat vorbeizumogeln. Etwas stimmt hier nicht. Die Linken sind nicht ganz ehrlich mit sich selbst. Hier liegt der Kern ihres Modernitätsproblems.

Modernität. Für die Bewegung der 68er war das überhaupt kein Thema – sie waren die Modernisierer par excellence. Ihnen war es selbstverständlich, den Schwung der Gesellschaftskritik in konkrete Veränderungen der Lebenspraxis umzusetzen. In diesem Schwung entstanden die Wohngemeinschaft, das selbstverwaltete Jugendzentrum, das Stadtteilzentrum, die Landkommune, der Kinderladen, der alternative Betrieb.

Damals setzten die Linken die gesellschaftlichen Maßstäbe für Modernität – nicht durch Anpassung an wirtschaftliche und technische Standards, sondern dadurch, daß sie eine Idee davon hatten, wie sie sich als Menschen entwickeln wollten. Ihre radikale Einstellung zum Leben versetzte sie in die Lage, neue gesellschaftliche Institutionen zu schaffen. Sie waren modern, weil sie versuchten, verschüttete Dimensionen des Lebens wieder auszugraben, den „ganzen“ Menschen wiederzuentdecken und ihn dem Lebensbild der bieder-züchtigen Arbeitsgesellschaft entgegenzusetzen. Die 68er setzten ein Fragezeichen hinter das Menschenbild ihrer Zeit und machten das Leben wieder zum Experiment.

Von dieser Art der Modernität ist bei den Linken unserer Tage wenig übrig geblieben. Sie sind staatsbürgerlich gebändigt und kulturell gezähmt. Statt von sich selber auszugehen, von ihrer Kritik an der Gesellschaft und ihrem Bedürfnis nach einem besseren Leben, orientieren sie sich an den Problemen des Staates, an der „öffentlichen Wohlfahrt“, an der Gemengelage ökonomischer Interessen. Sie wollen allen gerecht werden, den Berg- und Stahlarbeitern, die ihren Arbeitsplatz behalten wollen, um ihr Eigenheim abbezahlen zu können; den Sozialhilfeempfängern, die darunter leiden, im Billigsupermarkt einkaufen zu müssen; den Jugendlichen, die sich eine gesicherte berufliche Laufbahn mit stetig zunehmendem materiellem Wohlstand wünschen. Sie kapitulieren vor dem Menschenbild unserer Zeit – und in diesem Sinne sind sie wiederum sehr modern.

Mühelos buchstabieren die Linken von heute die Philosophie der rechnenden Vernunft und des zweckrationalen Kalküls; ohne mit der Wimper zu zucken, bedienen sie ein Lebensphilosophie, die sich in Arbeit und Konsum erschöpft, eine Idee von „Glückseligkeit“, die „ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen“ (Hobbes) ist; längst haben sie sich auch einem Politikverständnis verschrieben, das Menschen zur „Klientel“ degradiert, zu durchschaubaren Wesen mit kalkulierbaren Interessen und berechenbaren Reaktionen.

Wie könnte die Vision einer neuen Lebenspraxis heute aussehen? Und wie ein Politikverständnis, das die Bürgerinnen und Bürger nicht als berechenbare „Klientel“ wahrnimmt, sondern als offene, ansprechbare und entwicklungsfähige Menschen, denen es hin und wieder Spaß macht, die Grenzen ihrer eigenen Interessenlage zu überschreiten? Welches Bild vom Leben setzen wir den traditionellen Lebensentwürfen der Arbeitsgesellschaft entgegen? Wie wollen wir arbeiten? Und vor allem: wofür? Moderne linke Politik bräuchte wenigstens die Spur einer Idee davon, was im Leben zählt, was uns heute wichtig ist.

Der Siegeszug des neoliberalen Denkens in den 80er Jahren war nicht nur ein Resultat weltweiter ökonomischer Prozesse. Die Neoliberalen hatten den Mut, das vom traditionellen Wohlfahrtsstaat geprägte Menschenbild in Frage zu stellen. Ob die Antworten, die sie entwickelten, einen realistischen und zeitgemäßen Begriff vom Leben beinhalten – das ist die Frage, an der sich nicht nur die Zukunftsfähigkeit der Neoliberalen entscheidet, sondern auch die Modernität linker Alternativen. Gabriela Simon