Mach die Fliege!

Früher entwarf Julia Stoess die Schlapphüte für Samson aus der Sesamstraße. Jetzt fertigt die studierte Designerin überdimensionale Insektenmodelle an. Ihre Freunde hielten das zunächst für eine verrückte Idee. Doch das Geschäft läuft gut

Mit Monstern kennt Stoess sich aus, mit denen hatte sie schon früher als Kostümbildnerin bei der Sesamstraße zu tun

von JULIA BRODERSEN

Die Hirsch- und Rüsselkäfer an der Wand sind so breit wie zwei Handflächen. Der Kopf der Spinne auf dem Glastisch hat die Größe eines Tischtennisballs. Und der Grashüpfer neben dem Stuhl ist länger als eine Packung Spaghetti. Doch in der Wohnung von Julia Stoess im Hamburger Stadtteil Eppendorf brummt und krabbelt nichts. Die Insekten im XXL Format sind aus Silikon und Plastik.

Die Diplom-Designerin baut Modelle von Insekten. „Ich möchte das Insekt möglichst sympathisch darstellen, dass beim Betrachter positive Emotionen geweckt werden und althergebrachte Ekel-Klischees verschwinden“, sagt Stoess. Ihr Arbeitsgebiet nennt sich „Entomologischer Modellbau“ und befasst sich mit der wissenschaftlichen Erforschung von Insekten. In Deutschland ist sie bisher die einzige, die vergrößerte Modelle von Insekten herstellt. Dass ihre Arbeit einmalig sei, möchte sie aber nicht behaupten.

Auf der breiten Arbeitsplatte liegen Pinsel, Pinzetten und viele dünne Modellierstäbchen. Zwei Halogenlampen strahlen von oben auf den Schreibtisch. Stoess legt die Ellenbogen auf die Platte. „Diese Fingerspitzenarbeit hat etwas sehr Meditatives“, sagt sie und fährt mit dem kleinen Finger die Rillen eines Plastikflügels nach.

Bereits als Kind beobachtete Julia Stoess genau, was auf der Erde krabbelte oder durch die Luft schwirrte. Seit drei Jahren ist sie jetzt selbständig. Freunde hielten es zunächst für eine „verrückte Idee“, hauptberuflich Mücken zu modellieren. Doch genau diese Art von Insektenkunde schien bis dato in Naturkundemuseen, Tierparks und Ausstellungen zu fehlen. „Die Insektensäale in Museen oder Zoos sind oft langweilig“, sagt die 46-Jährige. „Die Tiere sind meistens getrocknet und aufgespießt in Schaukästen ausgestellt, dass der Besucher sie nur sehr schwer genau betrachten kann.“

„Beborsteter Hinterleib der Fliege“, „fleischfressende Florfliegenlarven“: Wenn die Hamburgerin von ihrer Arbeit erzählt, könnte das manchmal ekelig klingen. Doch Stoess erzählt gut. „Unter dem Mikroskop betrachtet, sehen viele Larven tatsächlich aus wie kleine Monster“, sagt sie, „aber die ausgewachsenen Insekten besitzen dann meistens wunderschöne Körperformen und Farben.“ Mit Monstern kennt Stoess sich aus, mit denen hatte sie schon früher als Kostümbildnerin bei der Sesamstraße zu tun. Zehn Jahre lang entwarf sie riesige Schlapphüte für Samson und Handtaschen für die Schnecke Finnchen, auch die Garderobe der Schauspieler stammte von ihr.

Julia Stoess hat Design an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg studiert und Kostümbilderin gelernt, doch schon damals modellierte und zeichnete sie nebenher Insekten. „Die ersten Modelle waren noch nicht wissenschaftlich korrekt“, sagt Stoess, „das kam erst später.“ Immer stärker interessierte sie sich für die exakten anatomischen Formen. „Es gibt leider kein Seminar, in dem man lernt, wie man eine Stubenfliege beborstet“, sagt Stoess. Sie musste sich selbst beibringen, wie man ein Insekt in einem Maßstab von 10:1 bis hin zu 100:1 detailgetreu konstruiert. Die genaue Gestaltung der Flügel war besonders schwierig. „Eine Wölbung zu hoch oder zu tief gibt meistens schon eine andere Gattung an“, sagt Stoess. Für andere Modellierverfahren ließ sie sich von Zahn- und Orthopädietechnikern beraten. Ihr erstes Insekt war ein zwanzigfach vergrößerter Goldglänzender Rosenkäfer. Detailgetreu und wissenschaftlich exakt stand er auf seinen sechs Beinen. Stoess konnte das Modell sofort an das Löbbecke Museum in Düsseldorf verkaufen.

Das Geschäft mit den XXL-Insekten läuft gut. Museen und Ausstellungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben mittlerweile Modelle von der Hamburgerin in ihren Katalog aufgenommen. Auch aus den USA und sogar aus Namibia kommen Anfragen. Bis zu drei Monaten baut sie an einem Modell. Bei größeren können es auch mal fünf oder sechs werden. Sie lehnt sich auf dem Schreibtischstuhl leicht zurück. „Für 2007 bin ich schon fast ausgebucht“, sie lächelt. Auch für die Zukunft ist sie optimistisch. „Das Modellieren von Insekten ist einer von wenigen Handarbeitsberufen, der auf lange Sicht nicht aussterben wird“, sagt sie. „Diese Arbeit muss man einfach von Hand machen, dafür wird es auch in Zukunft keine Maschinen geben.“

In Zukunft möchte sie mehr Geschichten erzählen. Nicht von der Biene Maja, sondern wissenschaftlich fundiert. Mit vielen ihrer Modelle tut sie das schon jetzt. Die Stubenfliege taucht ihren Rüssel in eine Pfütze Milch, zwei Ameisen bekämpfen sich auf sandigem Untergrund. Derzeit arbeitet sie an einem Szenario zum Thema Räuber und Beute, in dem ein Tausendfüßler mit seinen Zangen im Maßstab 20:1 ein Bodeninsekt packt. Das gesamte Modell wird später eine Länge von über zwei Meter haben. „In der Dramaturgie der dargestellten Geschichten liegt auch mein Spielraum an eigenen kreativen Designideen“, sagt Stoess. Ihr Zeige- und Mittelfinger trommeln abwechselnd auf die Arbeitsplatte. Sie erzählt von Chrysoperla carnea, der Gemeinen Florfliege und Elasmucha grisea, der Brutwanze. Die beiden mag sie besonders gern. „Die Brutwanze find ich einfach goldig, wie sie liebevoll ihren Nachwuchs beschützt.“

Die Brutwanze hat sie sich ganz genau angeguckt, auf ihrem Dachboden. Denn dort herrscht in einem Terrarium dann doch das große Krabbeln. Die Analyse lebender Insekten sei eine nötige Vorarbeit für den Modellbau, sagt Stoess.

Wo müsste denn in Zukunft unbedingt noch ein Insekt von ihr stehen? Sie kuckt aus der großen Fensterfront, dann in die Luft, als würde sie eine Mücke im Flug verfolgen. „Das National History Museum in London wäre natürlich schon schön“, sagt sie schließlich und fügt schnell hinzu: „Aber das hat noch Zeit.“

Informationen unter www.insektenmodelle.de